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Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit
Autoren: Fritz Leiber
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1
     
    Der allein stehende, steile Berg, der Corona Heights genannt wurde, war schwarz wie Pech und totenstill, wie das Herz des Unbekannten. Er blickte nach Nordosten hinab, auf die nervösen, hellen Lichter der City von San Francisco, als ob er ein riesiges Raubtier wäre, das im Dunkel der Nacht sein Territorium überblickte, in geduldigem Lauern auf Beute.
    Der zunehmende Mond war untergegangen, und die Sterne schimmerten wie Diamanten am schwarzen Himmel. Im Westen lag eine lange, schmale Nebelbank. Aber im Osten, hinter dem Geschäftsviertel der Stadt und der nebelverhangenen Bay, lag der schmale, geisterhafte Streifen der ersten Dämmerung über den flachen Hügeln hinter Berkeley, Oakland und Almeda, und hinter dem noch weiter entfernten Teufelsberg – Mount Diabolo.
    Von allen Seiten wurden die Corona Heights von hell erleuchteten Häusern und den Straßenlichtern umschlossen, als ob der Berg ein gefährliches Tier wäre. Doch auf dem Berg selbst leuchtete nicht ein einziges Licht. Ein an seinem Fuß stehender Beobachter wäre kaum in der Lage gewesen, den gezackten Grat und die unheimlichen Schründe an seiner Spitze (die selbst von den Möwen gemieden wurden) zu erkennen, die bizarren Klippen, die da und dort aus seinen kahlen Flanken wuchsen, die zwar hin und wieder vom Nebel berührt wurden, das Prasseln von Regen jedoch seit Monaten nicht mehr gefühlt hatten.
    Eines Tages würde man den Berg mit Bulldozern abtragen, wenn die Gier der Menschen noch größer geworden war als schon heute, und die Ehrfurcht vor der unberührten Natur noch geringer, doch jetzt konnte er noch Panik und Terror hervorrufen.
    Zu wild und zu unheimlich, um als Park gelten zu können, hatte man ihn etwas abwegig als ›Freizeitgelände‹ bezeichnet. Zugegeben, es befanden sich einige Tennisplätze und begrenzte Grasflächen, kleine Gebäude und schüttere Kiefernhaine an seinem Fuß, aber oberhalb von ihnen erhob sich roher, nackter Fels, in distanzierter Arroganz.
    Und jetzt schien sich in dem massierten Dunkel etwas zu regen. (Schwer zu sagen, was.) Vielleicht einer oder mehrere der wilden Hunde der Stadt, seit Generationen heimatlos, doch soweit angepasst, um als zahm gelten zu können. (Wenn man in einer großen Stadt einen Hund sieht, der sich allein um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, der niemanden bedroht, niemanden umschmeichelt – der sich, mit anderen Worten, wie ein guter Bürger benimmt, der eine Arbeit zu erledigen und keine Zeit für Spielereien hat – und wenn dieser Hund keine Marke und kein Halsband trägt, kann man ziemlich sicher sein, dass er nicht von seinem Herrn vernachlässigt wird, sondern wild ist – und angepasst.) Vielleicht aber war es ein noch wilderes und geheimnisvolleres Tier, das sich niemals der Herrschaft des Menschen unterworfen hatte und doch unerkannt und unbemerkt mitten unter den Menschen lebte. Vielleicht, durchaus vorstellbar, war es ein Mann (oder eine Frau), so tief in Wildheit oder Psychose versunken, dass er (oder sie) kein Licht brauchte. Oder vielleicht nur der Wind.
    Und jetzt färbte sich der helle Streifen im Osten dunkelrot, der ganze Himmel wurde von Ost nach West von Licht überzogen, die Sterne verblassten, und Corona Heights begann seine rohe, trockene, fahlbraune Flanke zu zeigen.
    Doch es blieb der Eindruck, als sei der Berg unruhig geworden, als ob er sich für sein Opfer entschieden hätte.

 
2
     
    Zwei Stunden später blickte Franz Westen aus dem offenen Fenster seiner Wohnung zum eintausend Fuß hohen Fernsehturm hinüber, der sich hellrot und weiß aus dem Nebel, der noch immer Sutro Crest und die drei Meilen entfernten Twin Peaks einhüllte, ins helle Licht der Sonne erhob. Der Fernsehturm – San Franciscos Eiffel, wie ihn einige Menschen nannten – war breitschulterig, schlankhüftig und langbeinig, wie eine schöne und elegante Frau – oder Halbgöttin. Er war in diesen Tagen ein Vermittler zwischen Franz und dem Universum, genau wie der Mensch dazu aufgerufen ist, zwischen den Atomen und den Sternen zu vermitteln. Ihn anzublicken, zu bewundern, fast anzubeten, war sein alltäglicher Morgengruß an das Universum, seine Affirmation, dass sie sich miteinander im Einklang befanden, bevor er Kaffee machte und sich mit Notizblock und Kugelschreiber wieder ins Bett zurückzog, um sich an sein Tagewerk zu machen, das darin bestand, übersinnliche Horror-Geschichten zu schreiben und vor allem (sein Brot und seine Butter) die Folgen der Fernseh-Serie
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