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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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Jahrhundert. Den Legenden zufolge hatten Werwölfe in Menschengestalt einige Merkmale behalten: dichte Augenbrauen, die über der Nase zusammenwuchsen, rötliche Fingernägel, Mittelfinger und Zeigefinger von gleicher Länge, Haare auf den Händen und den Füßen.
    Alles Sachen, die ich nicht bestätigen konnte, wenn ich mir Anna anguckte. Sie war eine hübsche, rassige Frau, eine schöne Spanierin, die kein bisschen ‚wolfig‘ aussah. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich jeden Morgen die Hände rasierte. Alles Quatsch! Ich stieß ebenfalls auf das Wort Lykanthropie, eine psychische Krankheit, bei der ein Mensch glaubte, er könnte sich in einen Wolf verwandeln. Litt ich unter einer Art Lykanthropie? In diesem Fall gäbe es eine Epidemie bei uns, denn ich war nicht die Einzige, die den Löwen wahrgenommen hatte.
    Im Großen und Ganzen waren meine Recherchen eher enttäuschend. Über eins durfte ich mich jedoch freuen: Es lebe das einundzwanzigste Jahrhundert, denn im schlimmsten Fall landete ich in der Psychiatrie, nicht auf dem Scheiterhaufen.
    Ich war gerade dabei
,
meinen Computer herunterzufahren, als mein Vater sich von unten verabschiedete. Da ich meine Schwester an diesem Morgen noch nicht gesehen hatte, sauste ich hinunter. Mit einem Kuss auf die Stirn wünschte ich ihr viel Spaß.
    Wenn ich schon im Erdgeschoss war, konnte ich genauso gut anfangen, das Essen zu richten.
    Kaum hatte ich alles herausgeholt, was ich brauchte, klingelte es an der Tür. Marie hatte bestimmt etwas vergessen. Ich rannte zum Eingang, riss die Tür auf – und erstarrte. Manuel! Die Verwirrung wurde noch größer, als er mich in die Arme nahm, und mir ins Ohr flüsterte: „Weißt du, dass du mir Angst gemacht hast?“
    Ich bekam Gänsehaut, als mich sein Atem streifte. Mein Herzschlag wurde schneller. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen, und ließ sie einfach runterhängen. Hin- und hergerissen zwischen der Angst und dem Wunsch, mich loszureißen, kam mir seine Umarmung wie eine Ewigkeit vor.
    Einerseits freute ich mich, er war für mich da; andererseits machte mich das Ganze verlegen. Seine letzte Umarmung lag vier Jahre zurück, als meine Mutter von uns ging. Unsere einzigen Berührungen entstanden bei Zankereien. Er küsste mich nicht einmal zur Begrüßung auf die Wangen, wie viele gute Freunde das taten. Ihn zu fühlen, verwirrte mich, denn was ich empfand, hatte nichts – aber rein gar nichts – damit zu tun, was man spürt, wenn man von seinem Bruder in die Arme genommen wird. Als er sich von mir löste, ließ er seine Hände auf meinen Armen und strahlte mich an: „Ich habe gewartet, bis dein Vater weg ist.“
    Ich errötete … Und das bei Manuel! Oh Mann! Am liebsten hätte ich mich an ihn gelehnt und geweint. Es ging aber nicht. Ich entzog mich seinem Blick, indem ich die Tür zumachte, nahm ihn an der Hand und zog ihn in die Küche, wo ich ihn wieder losließ. Zielstrebig ging ich ohne ihn anzusehen zu meiner Hirse.
    „ Ich muss ein Taboulé für heute Abend vorbereiten.“
    Eine erdrückende Stille füllte den Raum. Meine Gesten waren nervös. Ich spürte seinen Blick, obwohl ich ihm den Rücken zuwandte. Einerseits hoffte ich, er würde das Schweigen brechen, andererseits befürchtete ich, er könnte etwas ansprechen, das mir nicht behagte. Ich überlegte krampfhaft, was ich sagen könnte, als er meinte: „Du hast aber noch Zeit bis heute Abend.“
    „ Was gemacht ist, ist gemacht. Außerdem schmeckt ’s besser, wenn die Hirse lang ziehen kann.“
    Und wieder diese erdrückende Stille.
    „ Willst du darüber reden?“, fragte er schließlich.
    Natürlich hätte ich gerne darüber gesprochen, ich konnte es aber nicht. Ich spürte seinen Blick im Rücken. Komischerweise wandte ich mich ihm zu, um ihm auszuweichen. Ich spürte, wie Tränen aufstiegen, und versuchte, sie zu unterdrücken. Es gelang mir nicht. Wie auch? Er hatte mich in die Arme genommen. Das Schluchzen wurde immer heftiger. Er zog meinen Kopf an seine Brust und streichelte meinen Nacken, während er ein langes und sanftes „scht“ in mein Ohr hauchte. Ich erzitterte, versuchte aber nicht, mich zu befreien, ganz im Gegenteil, ich hielt ihn fest. Keine Ahnung, wohin das führen sollte, aber in diesem Augenblick spielte es keine Rolle. Er tat mir einfach gut. Die Schwere in meiner Brust verschwand allmählich, und allein das zählte. Aber dann fing mein Herz an zu rasen, er küsste meine Stirn. Eigentlich tat er
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