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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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nichts anderes als mein Vater, wenn dieser mich tröstete, … nur dass ich bei meinem Vater kein Herzklopfen bekam. Ich ließ ihn los, damit er meine Umarmung nicht falsch interpretieren konnte. Auf keinen Fall wollte ich ihn zum Weitermachen ermutigen. Eingeklemmt zwischen ihm und der Küchenzeile, versuchte ich mich zu befreien. Er schien mich aber nicht loslassen zu wollen.
    „ Oh, Manu“, stöhnte ich.
    Neues Streicheln, neues Flüstern, gefolgt von: „Ich weiß.“
    Mein Herz bebte. Was wusste er? Oder besser gesagt, was glaubte er zu wissen? Hatte ihm seine Mutter gesagt, was ich war? Ich schaute ihm in die Augen. „Was weißt du?“
    „ Dass ich dich liebe“, antwortete er leise.
    Neues Beben in meinem Brustkorb. Nicht, dass ich sonderlich überrascht gewesen wäre. Ich ahnte bereits, was er für mich empfand. Mit dieser Antwort hatte ich jedoch nicht gerechnet. Wieder tobten Erleichterung und Verlegenheit in mir. Also wirklich, er hatte die Gabe, zwiespältige Gefühle in mir zu wecken.
    „ Und ich weiß, dass du mich auch liebst“, fuhr er fort, ehe ich etwas sagen konnte. Verdutzt fing ich an zu stottern. Er drückte wieder meinen Kopf an seine Brust. „Nein, sag bitte nichts. Du würdest sowieso nur alles abstreiten. Du kannst dich vielleicht selbst belügen, aber mich nicht. Ich weiß, was du für mich empfindest. Gerade in diesem Augenblick schlägt dein Herz so heftig, als würde es gleich explodieren. Ich weiß, was du im Moment durchmachst … wenigstens was uns betrifft, weil ich selbst da durchmusste. Lange habe ich mir vorgemacht, du wärst sowas wie eine große Schwester für mich. Leider, oder besser gesagt glücklicherweise, bist du das nicht. Was uns verbindet, ist mehr als das. Sollte ich heute Morgen noch irgendwelche Zweifel gehabt haben, haben die sich in dem Moment in Luft aufgelöst, als ich dich in meine Arme geschlossen habe. Ich weiß, was uns trennt, Lilly. Nicht, dass wir zusammen aufgewachsen sind, sondern unser Alter. Du findest mich zu jung.“
    „ Ich …“
    „ Nein, sag nichts! …Noch nicht! Lass mich bitte erst aussprechen. Ich bin zwar nicht gekommen, um dir mein Herz auszuschütten, es hat sich einfach so ergeben. Aber wenn ich schon dabei bin, möchte ich es auch zu Ende bringen. Heute siehst du in mir einen Jungen, das Alter verliert aber an Bedeutung. Morgen wirst du mich mit anderen Augen sehen. Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich habe dich gestern geliebt, ich liebe dich heute und ich werde dich morgen lieben. Ich kann warten, Lilly. Ich werde warten, so lange es nötig ist. Und egal was geschieht, ich werde immer für dich da sein.“
    Was kann man zu einer solchen Liebeserklärung sagen? Ich war platt, wusste nicht, wie ich reagieren sollte, und murmelte lediglich ein: „Ich weiß.“
    Er lockerte seine Umarmung, guckte mich strahlend an und meinte halb überrascht, halb fragend: „So, so! Du weißt es.“
    „ Ich weiß, dass du immer für mich da sein wirst“, stellte ich schnell klar.
    „ Und was ist mit dem Rest?“
    „ Na ja, ich …, du …“
    „ Ich gebe dir die Zeit, die du brauchst. Bis dahin musst du aber nicht gleich in Panik geraten, wenn ich deine Stirn küsse. Betrachte es als den Kuss eines großen Bruders.“
    „ Erstens bist du nicht mein Bruder und …“
    „ Da bin ich aber froh, dass wir einer Meinung sind“, unterbrach er mich.
    „… und zweitens bin ich die Ältere.“
    „ Ich bin trotzdem ein Kopf größer“, konterte er mit einem Lächeln.
    Um es zu beweisen, nahm er meinen Kopf in seine Hände und küsste mein Haar.
    „ Siehst du. Kein Grund einen Aufstand zu machen. Was ist mit dem Taboulé? Kann ich dir helfen?“
    Während die Hirse quoll, spielten wir Uno. Die meiste Zeit gewann er. Wir waren unbekümmert und lachten viel. Es erinnerte mich an früher. Ich fühlte mich wohl in seiner Anwesenheit, so als ob ich mich nie verwandelt hätte, als ob ich nie mit Antoine gegangen wäre, als ob ich Manuel nie wie eine alte Socke fallengelassen hätte. Sein Lächeln steckte mich an. Ich war einfach glücklich.
    Als wir zurück zur Küche gingen, fiel sein Blick auf die Uhr.
    „ Ich muss leider gehen, es gibt gleich Essen“, bedauerte er.
    Auf dem Weg zur Tür griff ich nach seiner Hand, stellte mich auf die Fußspitzen und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Nur um uns zu beweisen, dass wirklich nichts dabei war. Lächelnd lief er, ohne den Blick von mir abzuwenden, rückwärts Richtung Tür und
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