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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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Kochorgien, wie sie manchmal bei uns am Wochenende mit Papa und Marie stattfanden, standen hier nicht zur Debatte. Ähnlich wie im Bad würde man sich zu zweit vor dem Herd auf die Füße treten.
    Das zweite Zimmer war ebenfalls sehr eng. Ohne Fenster hätte es eher wie ein Abstellraum auf mich gewirkt. Nach Yannicks Meinung war es dennoch unverzichtbar, wegen des Stauplatzes, den es bot, aber auch wegen der Privatsphäre. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich danach sehnen könnte, aber schließlich hatte ich noch nie mit einer Person auf so engem Raum gelebt. Ein Einbauschrank belegte eine ganze Wand. Gegenüber lag eine Matratze auf dem Boden, zu deren Linken waren Kartons mit einem großen G gestapelt, zu deren Rechten lag ein Haufen Kleidungsstücke, die scheinbar ohne Sorgfalt hingeschmissen worden waren. Am Ende des Zimmers unter dem Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch.
    „ Gregory hat noch nicht alle seine Sachen gepackt. Aber so wie es aussieht, hat er wenigstens den Schrank leergemacht.“
    Yannick riss die Türen auf, um sich davon zu überzeugen. Das Gleiche tat er schließlich in der Küche, um den Inhalt der Schränke zu überprüfen. Dann brachte er unser Gepäck in das große Zimmer.
    Als er anfing, CD-Kartons reinzuschleppen, fragte ich mich verdrossen, ob das nicht warten könnte. Ich beobachtete ihn mit einem vorwurfsvollen Blick und war im Begriff, eine Bemerkung zu machen, als ich ein Leuchten in seinen Augen entdeckte. Scheinbar hatte er das gefunden, wonach er gesucht hatte. Hastig packte er eine ganze Reihe CDs aus, die er einfach auf den Boden stellte, und pickte sich das ersehnte Stück heraus: das Album
Heathenchemistry
von Oasis.
    Vor dem Fenster stehend, wandte ich den Kopf nach draußen und sah zu, wie der Regen fiel. Ich wurde melancholisch. Keine Ahnung, was ich bei meiner Ankunft zu finden erhofft hatte. Meine Freude war so groß gewesen, und nun war mir nach Weinen zumute. Nur vier Meter trennten mich von dem Mann, den ich liebte, und dennoch fühlte ich mich allein und verlassen. Spielten gerade meine Hormone verrückt? Vermutlich hatte Yannick Recht mit der Annahme, ich würde meine Tage bekommen. Das war bestimmt keine neue Depression, versuchte ich mich zu beruhigen. Es waren bloß unbedeutende Gemütsschwankungen, die sich bald in Luft auflösen würden.
    Yannicks Atem auf meiner Schulter ließ mich zusammenzucken, ehe seine Lippen sie berührten. Ich erschauderte noch einmal, als seine Finger meine Wange und meinen Hals streiften, um meinen Nacken von meinem Haar zu befreien. Er schlang die Arme um mich und sang leise in mein Ohr den Refrain von
The Hindu Times
:
„You’re my sunshine, you’re my rain.“
    An ihn gelehnt, ließ ich mich einfach wiegen, während wir eine Ewigkeit das Regengrau zusammen betrachteten.
    „ Bist du schwermütig? … Bereust du, hierhergekommen zu sein?“
    „ Wie kannst du sowas denken?! Das Wetter ist schuld, es geht wieder vorüber. Es ist ja nicht so, als hätten wir in der Normandie keinen Regen. Ganz im Gegenteil, ich bin es gewohnt. Wir hatten Glück in letzter Zeit, aber womöglich schüttet es in diesem Augenblick auch dort.“
    „ Hast du schon zu Hause angerufen?“
    „ Ach du Schande! Das habe ich total vergessen.“
    Ich entriss mich augenblicklich seiner Umklammerung, um mich auf mein Handy zu stürzen. Mein Vater nahm nach dem ersten Klingeln ab, als hätte er ungeduldig auf meinen Anruf gewartet. Er freute sich zu hören, dass wir gut angekommen waren. Ich freute mich zu hören, dass der Himmel auch in der Normandie weinte. Meine Trübsal war wie weggeblasen und mein Herz mit Sonnenschein erfüllt. Ans Fenster gelehnt beobachtete mich Yannick mit einem Grinsen. Strahlend warf ich mich nach dem Telefonat in seine Arme. Der Regen war in meinen Augen nicht länger ein schlechtes Omen.
    „ Oh Lilly, du bist einmalig! Ich liebe dich.“
    Er drückte mich fest an sich, als fürchtete er, ich könnte davonfliegen.
    „ Ich liebe dich auch und denk nie wieder, ich wäre lieber woanders. Meine Familie wird mir fehlen, Manuel und Aquila werden mir fehlen, das ist aber alles nichts verglichen zu dem, was ich durchmachen würde, wenn du nicht bei mir wärst. Also zähle ich auf dich, um mich zu trösten und vor allem, um mich auf andere Gedanken zu bringen, sobald ich Trübsal blase.“
    „ Versprochen! Vielleicht sollten wir auch langsam überlegen, was wir heute Abend machen. Wir könnten essen gehen und
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