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Unter deinem Stern

Unter deinem Stern

Titel: Unter deinem Stern
Autoren: Victoria Connelly
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Prolog
    Es ist allgemein bekannt, dass eine Braut in Schwarz eher schlecht aussieht. Aber Frischvermählte sehen noch schlechter aus, und Claudie Gale bildete da keine Ausnahme. Ihre Haut hob sich porzellanweiß gegen ihr Kleid ab, und sie saß vor Kälte zitternd in der winzigen Kirche – derselben Kirche, in der sie erst sechs Wochen zuvor geheiratet hatte. Sie konnte die Blumen beinahe riechen, beinahe die Wärme der Junisonne spüren, deren Licht durch die bunten Fenster fiel. Beinahe, aber nicht ganz. Die Empfindungen waren nicht voll da, weil sie selbst nicht voll da war. Sie fühlte sich losgelöst von ihrem Körper, als wären ihre Gliedmaßen an Schnüren befestigt, die ein Puppenspieler irgendwo oben in den Dachsparren bewegte.
    Sie hatte Treue gelobt, bis dass der Tod uns scheidet, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Tod so schnell kommen würde. Es fühlte sich alles so unvollständig an, wie eine abgebrochene Unterhaltung oder eine Theatervorstellung, bei der der Vorhang fünf Minuten zu früh gefallen war.
    Sie konnte sich noch deutlich an ihr letztes Gespräch auf dem Bahnhof erinnern. Sie hatte darauf bestanden, ihn zum Zug zu bringen. Das machten Frischvermählte doch so, oder nicht? Ebenso wie man liebevoll lächelnd die Socken vom Schlafzimmerboden aufhob oder zum vierten Mal am Tag den Klodeckel runterklappte. Das werde bald nachlassen, hatte man ihr gesagt, aber sie war wild entschlossen gewesen, es auszukosten, solange es anhielt.
    »Musst du wirklich weg?«, hatte sie gefragt, während sie mit den Fingern kleine Kreise auf seiner großen, fleischigen Handfläche beschrieben hatte.
    »Claudie, die Sache ist schon seit Monaten geplant. Das wusstest du, als du den Hochzeitstermin festgelegt hast. Ich kann die Jungs nicht einfach hängen lassen.«
    »Ich weiß«, hatte sie gelogen. In Wirklichkeit wollte sie viel lieber egoistisch sein und ihn noch eine Weile ganz für sich allein behalten. »Aber es ist so gefährlich.«
    Luke hatte auf sie herabgelächelt, ein schelmisches Funkeln in den Augen. »Es ist nicht gefährlicher, als die Straße zu überqueren«, hatte er gesagt, bevor er ihr einen Kuss gab, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
    »Versprichst du mir, dass du auf dich aufpasst?«
    »Das weißt du doch. Und du auch? Es gibt eine Menge Straßen hier in der Gegend.«
    Sie hatte ihn lächelnd in den Bauch geknufft, und dann hatte er sie mit seinen großen Armen so fest umarmt, dass sie sich die Nase an seiner Brust platt gedrückt hatte. Sie erinnerte sich noch, wie sie protestiert hatte, als er das zum ersten Mal gemacht hatte.
    »Ich ersticke! Lass mich los!«
    »Nein, niemals!«
    Doch dann hatte er sie losgelassen. Er hatte sie verlassen.
    Sie hatte zugesehen, wie er auf den Zug gesprungen war, wobei er mit seinem riesigen Rucksack hantiert hatte, als sei er nicht mehr als ein leichtes Stoffbündel. Sie hatten sich Handküsse zugeworfen, als der Zug abfuhr, und Claudie hatte wie eine Figur aus einem Vierzigerjahre-Film auf dem Bahnsteig gestanden, bis ihr Mann nur noch ein Pünktchen am Horizont war.
    Was sie so bedrückte, war nicht nur die Tatsache, dass sie ihn nie wiedersehen würde, sondern dass er sie und alles andere nie wiedersehen würde. Für Luke hatte die Welt am einundzwanzigsten Juli aufgehört zu existieren. Für ihn wurden keine Lieder mehr gesungen und keine Bücher mehr geschrieben. Am einundzwanzigsten Juli war die Welt für Luke abgeschlossen: nichts Neues, keine Entwicklung mehr. Das konnte Claudie nicht ertragen.
    Das Leben mit Luke war paradiesisch gewesen: ein Traum in Technicolor. Aber jetzt war Claudie zurück in der Wirklichkeit, und das Leben war wieder eintönig und trostlos.
    Was sollte nur ohne die tägliche Ration an Scherzen aus ihr werden? Luke hatte sie süchtig nach Scherzen gemacht. Bei der Erinnerung an einen davon musste sie so lachen, dass sie einen Augenblick lang vergaß, wo sie sich befand.
    »Claudie?« Ihre Mutter, die, nachdem sie ihre Tochter vier Jahre lang nicht gesehen hatte, sowohl zur Hochzeit als auch zur Beerdigung aus Marseille eingeflogen war, klang gereizt und gestresst. »Claudie? Was ist los?«
    Was ist los? Was ist los? Die Frage war so absurd, dass Claudie einen Kicheranfall bekam.
    »Claudie! « Die manikürte Hand ihrer Mutter legte sich fest auf ihren Arm, doch es half nichts. Sie hatte sich aus der Welt, die sie umgab, davongestohlen und war meilenweit entfernt von allem und jedem.
    In dem Augenblick
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