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Unter deinem Stern

Unter deinem Stern

Titel: Unter deinem Stern
Autoren: Victoria Connelly
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hatte sie zum ersten Mal die Stimmen gehört. Von ganz hoch oben. Hingen die auch an den Fäden des Puppenspielers? Claudie schaute zu den Dachbalken hinauf, aber es war zu dunkel. Sie konnte nichts erkennen.
    »Das war zu erwarten.«
    »Sie hätte nicht herkommen sollen.«
    »Sie muss allein sein.«
    »Sie braucht noch ein bisschen Zeit.«
    Die Stimmen hallten von allen Seiten wider, es war wie im Traum, und sie sah ihre Umgebung nur noch verschwommen, als ihre Augen sich mit heißen Tränen füllten. Bestimmt war es der Witz, der sie zum Weinen brachte. Sie konnte einfach nicht aufhören zu lachen. Und dann vermochte sie sich auf einmal gar nicht mehr daran zu erinnern, was sie so lustig gefunden hatte. Wie lautete die Pointe? Was hatte er noch mal zu ihr gesagt?
    Wo war er?
    »Luke?«
    Sie hatte aufgehört zu lachen.

1
    »Wie lange ist das jetzt schon her?«, fragte Angela, nachdem sie einen Schluck von dem Kaffee aus der Maschine getrunken hatte.
    »Neun Monate«, erwiderte Kristen und entschied sich nach einem Blick auf Angelas dünnen Kaffee für eine heiße Schokolade.
    »Was meinst du, ist das lange genug? Ich meine – um drüber wegzukommen?«
    Kristen blies die Backen auf und seufzte. »Tja, ich hab mal neun Monate gebraucht, um einen Ex zu vergessen.«
    »Mein Gott! Wie lange wart ihr denn zusammen?«
    »Sechs Wochen.«
    Angela nickte mitfühlend, trank ihre Tasse aus und füllte sie erneut. Der Kaffee, den die Düse diesmal ausspuckte, sah aus wie Sirup.
    »Das ist doch nicht normal, oder?«, sagte sie, ohne den Inhalt ihrer Tasse zu beachten. »Er war noch so jung. Es ist einfach unfair.«
    Kristen nickte und schaute zu Claudie hinüber, die abwesend auf ihren Computer starrte, ihren Kugelschreiber im Mundwinkel wie einen besonders starken Joint. »Ich erkenne sie kaum wieder in letzter Zeit. Sie hat sich völlig in sich zurückgezogen.«
    »Was stand denn in all den Büchern? Du musst doch inzwischen alles gelesen haben, das je zu dem Thema geschrieben wurde.«
    Kristen nippte an ihrer Schokolade und leckte sich die Kakaoklümpchen von den Lippen.
    »Die sind absolut unbrauchbar. In jedem steht was anderes. Ich habe den Eindruck, dass kein Mensch sich wirklich damit auskennt.«
    »Aber war da nicht noch irgendwas mit einer emotionalen Gleichung?«
    »Du meinst, je stärker die Liebe war, umso länger dauert die Trauer?« Kristen sah Angela an. »Demnach lässt Trauer sich am besten vermeiden, indem man die Liebe meidet.«
    Angela schüttelte den Kopf. »Nein, das ist wider die Natur. Wie soll ein Mensch denn ohne Liebe durchs Leben gehen?«
    »Ich glaube, das gibt’s gar nicht.«
    »Nein, unmöglich.«
    Eine Weile standen sie schweigend da, nippten an ihren Getränken und dachten nach.
    »Ihre Mutter hat sich unmöglich benommen. Wusstest du, dass sie gleich nach der Beerdigung zurück nach Frankreich geflogen ist?«
    Angela nickte.
    »Die hat noch nicht mal gewartet, bis ihr Schwiegersohn kalt war.«
    »Kris, hör auf!«
    »Es macht mich einfach stinkwütend. Als hätte sie keine Tochter. Die Frau ist eine blöde, egoistische Zicke! Ich weiß, dass die beiden sich nie sehr nahe gestanden haben, aber man sollte doch meinen, dass eine Mutter ihrer Tochter in so einer schweren Zeit beisteht, oder? Lukes Eltern sind auch nicht besser. Klar, Luke und Claudie waren nicht sehr lange verheiratet, aber jetzt tun seine Eltern so, als wäre sie nie ein Teil der Familie gewesen.«
    »Das gehört sich nicht.«
    »Da hast du verdammt Recht.«
    »Wir müssen irgendwas unternehmen, meinst du nicht?«, fragte Angela.
    »Sie geht immer noch zu diesem Typen in York. Wahrscheinlich hilft es ihr«, überlegte Kristen.
    »Woher willst du das wissen? Bist du dir ganz sicher, dass sie nicht einfach nach York fährt und Frustkäufe macht?«
    »Nein! So was würde sie nie tun.«
    »Oder sich in irgendein Kino setzt? Du weißt doch, wie sehr sie auf Filme steht.«
    Das wusste Kristen nur zu gut. Sie hatte schon an manch einem Samstagabend große Mühe gehabt, eine widerstrebende Claudie von ihrer MGM-Musical-Sammlung weg und aus dem Haus zu locken.
    Eine Gelegenheit war Kristen besonders unangenehm im Gedächtnis haften geblieben. Zwei Monate nach Lukes Tod war sie zu Claudie gekommen, nachdem sie ein paar Einkäufe für die Freundin erledigt hatte. Die Haustür war offen gewesen – eine Angewohnheit, derentwegen sie schon oft mit Claudie geschimpft hatte –, und sie hatte ihre Freundin im Wohnzimmer angetroffen, wo sie
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