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Unter deinem Stern

Unter deinem Stern

Titel: Unter deinem Stern
Autoren: Victoria Connelly
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aufhielt.
    »Wie geht es Ihnen, Claudie?«, fragte Dr. Lynton wie üblich.
    »Gut«, erwiderte sie wie immer, obwohl sie natürlich genau wusste, dass sie, wenn es ihr tatsächlich gut ginge, jetzt im Büro sitzen würde, anstatt den Freitagnachmittag bei einem Trauerberater zu verbringen. Sie musste daran denken, wie sie zum ersten Mal hergekommen war und wie sie vor lauter Erleichterung darüber, dass sie sich entschlossen hatte, Hilfe zu suchen, eine halbe Stunde lang wie ein Schlosshund geweint hatte.
    »Haben Sie Zeit gefunden, das Buch zu lesen, das ich Ihnen mitgegeben habe?«, fragte Dr. Lynton und ging zu dem kleinen Tisch hinüber, wo ein Teekessel und ein Tablett mit Tassen bereitstanden.
    »Ja.« Claudie kramte in ihrer Handtasche. »Es muss hier irgendwo sein.«
    »Was halten Sie davon?«
    Claudie reichte ihm das Buch, das er sofort zurück an seinen Platz im Regal stellte.
    »Ich fand …«, begann Claudie, während sie versuchte, sich eine Meinung zurechtzulegen. »Ich fand es interessant, dass es mehrere Stadien der Trauer gibt.« Sie legte ihre Jacke ab und setzte sich in den kleineren der beiden Sessel.
    »Sie trinken Ihren Tee ohne Zucker, nicht wahr?«
    »Na ja, ein kleines Stückchen hätte ich schon gerne.« Claudie traute sich nicht zuzugeben, dass sie in Wirklichkeit ein ganz großes Stück bevorzugte. Aber es war jede Woche das Gleiche. Er konnte es sich nie merken.
    »Schwarz?«
    »Mit einem kleinen Schuss Milch, bitte.«
    »Konnten Sie mit den in dem Buch beschriebenen Trauerphasen etwas anfangen?«, fragte er, während er ihr eine Tasse Tee reichte, der viel zu stark und längst nicht milchig genug aussah.
    »Ja«, erwiderte sie, nahm die Tasse und nippte tapfer daran.
    »Meinen Sie denn, dass Sie erkennen können, in welcher Phase Sie sich befinden?« Er ließ sich schwer in den Sessel neben dem Philodendron sinken.
    Claudie trank noch einen Schluck Tee. Er schmeckte noch schlechter als das Zeug im Büro. Sie hatte keine Lust, über Trauerphasen zu reden, doch wie sollte sie das Thema umschiffen und auf das zu sprechen kommen, was ihr wirklich auf den Nägeln brannte?
    »Dr. Lynton«, sagte sie, »eigentlich habe ich vor allem über das nachgedacht, was in dem Buch über Halluzinationen steht.«
    »Sie haben Halluzinationen?«
    »Nein!«, antwortete sie hastig. »Luke erscheint mir nicht. Nur manchmal, beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Arbeit, begegne ich jemandem, der aussieht wie er. Ich weiß natürlich, dass er es nicht ist, aber es ist schrecklich.« Sie überlegte. »Ab und zu erwische ich mich sogar dabei, wie ich Fremde wütend anstarre, beinahe so, als wäre es ihre Schuld, dass sie nicht Luke sind. Dabei sehen sie ihm meist nicht mal ähnlich, sondern haben nur seine Art, zu gehen oder das Kinn vorzurecken. Verstehen Sie, was ich meine?«
    Dr. Lynton nickte.
    »Halluzinationen können alle möglichen Formen annehmen, nicht wahr?«
    Er nickte wieder, offenbar wollte er ihren Gedankenfluss nicht unterbrechen.
    »Na ja, also, ich sehe nicht nur Leute, die mich an Luke erinnern, ich sehe auch andere Leute.«
    »Andere Leute, die gestorben sind?«
    »Nein.« Sie stellte ihre Teetasse ab und biss sich auf die Unterlippe, während sie nervös den schmalen goldenen Ring an ihrem linken Ringfinger drehte. »Kleine Leute. Glaube ich.«
    Dr. Lynton nahm seine winzige Brille ab und schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was genau meinen Sie damit?«
    Claudie seufzte. »Ich glaube, ich habe eine winzige Person gesehen, die sich im Büro in meinem Stiftebecher versteckt hat.«
    Dr. Lyntons Kopf ruckte vor wie der eines neugierigen Vogels. Sie ließ ihm einen Augenblick Zeit, um zu verdauen, was sie gerade gesagt hatte.
    »Sie glauben, Sie hätten das beobachtet?«
    »Ja, ich bin mir nicht ganz sicher. Ich meine – es bewegte sich so schnell – wie ein Blitz – nur in Menschengestalt.« Sie sah zu, wie er den Kugelschreiber in seiner Hand drehte. Er sagte nichts, aber das war nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich dachte er nach, was Claudie Gelegenheit gab, ihn zu mustern. Sie betrachtete seinen dichten weißen Haarschopf. Sein Haar war unglaublich dick, und allein mit seinen Augenbrauen hätte man ein Sofakissen ausstopfen können. Dann musterte sie seine Nasenlöcher: große, dunkle, sich blähende Öffnungen, wie zwei Höhlen. Er war wirklich eine außergewöhnliche Erscheinung.
    »Schlafen Sie gut?«
    »Aber ja.«
    »Und Sie ernähren sich gesund? Sie trinken nicht etwa
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