Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
ham'se im Britischen Museum entlassen, weil halt kein Geld mehr da war. Na ja, dann hat der sich 'n Tischtuch umgewickelt, is' durch'n Hyde Park gelaufen und hat so komisches Zeug auf Latein oder Griechisch oder so geredet. Bis sie ihn dann eingefangen und in die Klapsmühle gesteckt haben. Wenn's erst so richtig bergab geht mit ihnen, dann drehen heutzutage sogar richtig kluge Leute durch. Mit dem da« – er deutete auf den Toten – »war's wohl auch so, Guv'nor.«
Tubber nickte wortlos. Die Erklärung machte Sinn. Er konnte irgendwie verstehen, dass Menschen sich in die Vergangenheit flüchteten, wenn ihnen die Gegenwart zwischen den Fingern zerbröckelte. Erstaunlich fand er nur, mit welchem Aufwand dieser tote Fremde vor dem Kühler des Busses seine ganz persönliche Flucht ins achtzehnte Jahrhundert inszeniert hatte. Ein solches Kostüm anzufertigen, war zweifellos nur mit viel Mühe und exzellenten Kontakten zum Schwarzmarkt möglich.
Für einen Moment betrachtete er den zertrümmerten Körper. Und er stellte fest, dass er diesen Mann nicht mochte. Tubber hatte eine schemenhafte, abstrakte Ahnung, dass dieser seltsame Tote ein schlechtes Vorzeichen für ihn darstellte. Zudem würde die Verspätung Ingrid sicherlich nicht milder stimmen, wenn er ihr die schlechte Neuigkeit von seinem neuen Auftrag überbrachte.
     

4. März, Im Londoner Vorort Plumstead
    Die Zeitung war der Schild, mit dem John Tubber sich den vorwurfsvollen Blicken seiner Frau Ingrid zu entziehen versuchte. Dieses Frühstück war mit Abstand das schlimmste seit seiner Rückkehr aus Indien, und es folgte unmittelbar auf die fürchterlichste Nacht, die er je hatte überstehen müssen. Übermüdet kämpfte er sich durch die auf lappigem, gräulichem Papier gedruckten Nachrichten. Vieles überflog er einfach, denn nur die wenigsten Meldungen waren auch nur annähernd lesenswert.
Etwa, dass die abtrünnige Republik Australien tatsächlich den Mut hatte, den Vereinigten Staaten die Stirn zu bieten. Tubber fragte sich, ob es nun Tapferkeit oder schlichter Irrsinn war, die amerikanischen Fischereiflotten aus den australischen Hoheitsgewässern zu verjagen. Doch die Kühnheit der Australier imponierte ihm, auch wenn sie ein Haufen von Separatisten und Rebellen waren. Zudem verstanden sie es, die Gunst der Stunde zu nutzen, denn die USA konzentrierten ihre Aufmerksamkeit gegenwärtig ja eher auf China. Dort hatte das Regime ihres Schützlings Tschiang-Kai-Tschek kaum mehr als die Küstenregionen unter Kontrolle, während das Hinterland größtenteils von den Horden der maoistischen Aufständischen beherrscht wurde. Selbstverständlich waren die heftigen Kämpfe zwischen den chinesischen Regierungstruppen und Maos Guerillaarmee dem Daily Observer nur eine Randnotiz wert. Den meisten Raum auf den acht eng bedruckten Seiten beanspruchten die Mitteilungen zur Lebensmittelversorgung, zu den neuen Verordnungen über Rationierung und Bezugskarten sowie zur wöchentlichen Kohlezuteilung.
Den bizarr kostümierten Toten des vergangenen Abends erwähnte die Zeitung mit keiner Silbe, aber das hatte Tubber auch nicht erwartet.
Deprimiert ließ er die Zeitung sinken, um einen Schluck von dem obskuren Gebräu zu nehmen, das euphemistisch als Tee-Ersatz bezeichnet wurde und dessen Geruch und Geschmack, dessen war er sich sicher, nur Engländer klaglos ertragen konnten.
Auf diesen Moment hatte seine Frau nur gewartet.
Sie fixierte ihn mit einem Blick, vor dem es kein Entrinnen gab, und sagte knapp und eindringlich: »Nun?«
»Bitte nicht schon wieder«, entgegnete Tubber gequält. »So glaub mir doch, deine Vorwürfe treffen den Falschen. Ich kann nichts dafür, dass sie mich schon wieder ins Ausland schicken.«
»So? Für mich sieht das aber ganz anders aus. Du hast in Indien wohl versagt, und jetzt schickt der alte Holborne dich zur Strafe nach Deutschland. So ist es doch, oder?«
Tubber hatte die Tasse gerade zum Mund geführt, setzte sie nun aber erstaunt wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Das ist ja ... woher weißt du, dass ich nach Deutschland muss? Ich dachte, das wäre geheim!«
»Halte mich bitte nicht für dumm«, meinte Ingrid Tubber. »Du hast das alte deutsch-englische Wörterbuch eingepackt, das ich dir mal zu Weihnachten geschenkt hatte. Und auf deinem Koffer im Flur liegt eine Fahrkarte für den Zug nach Harwich. Da ist es doch logisch, dass du mit dem Schiff nach Hamburg fährst, weil du in Deutschland zu tun hast. Dafür braucht man nun wirklich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher