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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
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leise. Mehr brachte er nicht heraus.
Ihre Hand löste sich ohne Eile von seiner. Langsam, da er nicht wusste, ob seine Beine nicht einfach unter ihm einknicken würden, stand Tubber vom Tisch auf und ging schweigend in den Flur, wo sein abgestoßener, ausgebeulter lederner Reisekoffer stand.
Ingrid folgte ihm, und während er den Mantel anzog, fragte sie sanft: »Falls du in Hamburg eine Stunde Zeit findest, tust du mir einen Gefallen?«
»Natürlich«, sagte Tubber leise und knöpfte den Mantel zu. »Was möchtest du denn?«
»Fahr doch bitte zum Friedhof Ohlsdorf und bring einige Blumen ans Grab von ... von ... na! Wie war nur der Name ... ?«
»Meyer?«
»Ja, genau ... meine Güte, wie konnte ich bloß den Namen vergessen. Ich kann das gar nicht verstehen. Dabei hat mir meine Mutter doch so viel von ihrer Jugendfreundin Gisela ... nein, Gerda Meyer erzählt. Du weißt doch noch, wo ihr Grab war?«
»Ja, ich glaube schon. Wiederfinden werde ich's auf jeden Fall. Versprochen.«
Er sah das Lächeln, das auf ihren Lippen lag und das den unsichtbaren Schleier aus Zweifeln und Besorgnis durchbrach. Sie umarmten und küssten sich, viel länger und intensiver, als sie es seit vielen Jahren getan hatten. Nur widerstrebend lösten sie sich schließlich wieder voneinander.
Tubber atmete tief durch, nahm den Koffer an sich und sagte so ernst, als würde er einen Schwur ablegen: »Ich werde keines meiner Versprechen brechen, Ingrid.
Keines!«
     

6. März, Auf der Elbe
    Durch den feinen Nieselregen, der immer wieder von kräftigen Windböen durcheinandergewirbelt wurde, glitt die RMS Boudicea langsam die Elbe hinauf. Trotz des ungemütlichen Wetters stand John Tubber mit seinem Koffer auf dem Oberdeck und atmete immer wieder tief durch. Die ganze Nacht hindurch hatte er wach gelegen und schubweise erst das miserable Abendessen, dann Überreste der vorangegangenen Mahlzeiten des Tages wieder von sich gegeben. Keine zehn Pferde würden ihn noch einmal in die winzige, stickige Kabine zurückbringen. Tubbers Stimmung war nach der stürmischen Nordseeüberfahrt auf einem Tiefpunkt angelangt, und sie besserte sich auch nicht, als das Schiff die ersten Vororte Hamburgs passierte. Er konnte sich noch an die dicht bewaldeten Hänge des Stadtteils Blankenese erinnern. Nun erhoben sie sich völlig kahl geschlagen über dem Fluss. Zweifellos hatte das Holz bis zum letzten Ast als Heizmaterial herhalten müssen. Die ehemals noblen Villen wirkten nackt und verloren; aus vielen der mit Pappe und Brettern verschlossenen Fenster ragten Ofenrohre, aber nur vereinzelt stieg aus ihnen auch ein wenig schmutzig grauer Rauch auf. Im flachen Wasser entlang des Elbstrandes lagen, ausgeweidet und von Rost zerfressen, die zerfallenden Rümpfe namenloser Schiffe, vom Hafenschlepper bis zum Frachter.
Hinter Blankenese kam Altona in Sicht, während rechts vom Schiff die Ruinen der Flugzeugwerft Blohm & Voß auf der Insel Finkenwerder den Anfang einer deprimierenden Aneinanderreihung zerstörter Hafenanlagen bildeten. So weit das Auge reichte, zogen sich auf dem südlichen Elbufer die Trümmer der 1949
gesprengten Docks, Werften, Montagehallen, Kais und Kräne hin. Lebhaft erinnerte sich Tubber daran, wie damals britische und amerikanische Pionierkommandos mit Tausenden und Abertausenden Tonnen Sprengstoff über viele Wochen alles in Schutt und Asche gelegt hatten, was auf der schwarzen Liste des Zweiten Morgenthau-Plans stand. Er war froh gewesen, als er zusammen mit seiner Frau Hamburg endlich verlassen und nach England zurückkehren konnte. Die ständigen Explosionen, die Tag und Nacht über viele Kilometer hinweg die Luft erzittern ließen, hatten ihm den letzten Nerv geraubt und Ingrid beinahe in den Wahnsinn getrieben.
Und nun kam er noch einmal in diese Stadt, von der er gehofft hatte, sie nie wiedersehen zu müssen. Schon vor dreizehn Jahren war sie ein bedrückender Ort gewesen, und ein einziger Blick auf die zur Linken vorbeiziehenden Ruinen Altonas zeigte Tubber, dass sich daran nichts geändert hatte, zumindest nicht zum Besseren.
Nur eine Handvoll Häuser hatte den Bombenhagel der Kriegsjahre wenigstens halbwegs intakt überstanden; von den übrigen waren geborstene Außenmauern mit leeren Fensterhöhlen geblieben, überragt vom ausgebrannten Stumpf eines Kirchturms.
Irgendwo in einem abgelegenen Winkel von Tubbers Gehirn blitzte für einen verschwindend kurzen Moment der Name der Kirche auf, St. Trinitatis, entglitt ihm aber wieder, ehe ihm
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