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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
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Endlich ist es soweit! Das wird eine dicke Beförderung geben. Ich kann es kaum erwarten, dem alten Holborne meinen Bericht zu präsentieren! Die Schützenlinie hatte inzwischen das Dorf erreicht. Nur noch Augenblicke, dann würden Rajiv und seine Leute aus den Hütten gerannt kommen und vergeblich versuchen, sich einen Fluchtweg freizuschießen. Tubber erwartete, dass jeden Moment die ersten Schüsse fielen.
Doch es geschah nichts. Unruhig beobachtete der Engländer, wie die Soldaten in die Häuser eindrangen, nur um gleich darauf ohne einen einzigen Gefangenen wieder herauszukommen.
»Verflucht, was soll das?«, murmelte Tubber. Nervös biss er sich auf die Unterlippe.
Scheiße, wo haben die sich denn verkrochen? In dem winzigen Kaff kann es doch gar nicht so viele Verstecke geben. Es sei denn, sie sind gar nicht ... »Unsinn«, wies er sich selbst streng zurecht und schüttelte den beunruhigenden Gedanken schnell ab. Dass er sich vielleicht geirrt haben könnte, mochte John Tubber sich nicht einmal vorstellen. Es durfte einfach nicht sein.
Er versuchte den schalen Geschmack herunterzuschlucken, der sich in seiner Mundhöhle ausbreitete, und starrte angestrengt durch das Fernglas, in der Hoffnung, doch endlich Rajiv und seine Banditen auftauchen zu sehen. Aber er konnte nur verfolgen, wie Captain Singh einen der Soldaten als Melder losschickte. Im Laufschritt verließ dieser das Dorf und erreichte rasch Tubber, der jetzt ein beklemmendes Gefühl in der Brust verspürte.
Knapp meldete der Gurkha: »Nichts, Sir.«
»Nichts?«, wiederholte Tubber entsetzt. Er spürte, dass seine Knie weich wurden und unter ihm einzuknicken drohten. »Nichts ...«, sagte er noch einmal heiser.
Er hatte versagt. Wieder einmal. Wie sollte er das nur Sir Hugh Holborne erklären?
Und wie seiner Frau Ingrid?
     

3. März, London
    Sir Hugh Holborne residierte in einem Büro, in dem nur wenige Details verrieten, dass man sich nicht mitten in der Regierungszeit Königin Viktorias befand. Dazu zählten das elfenbeinfarbene Telefon auf dem mächtigen Schreibtisch im Tudor-Stil, ein in Öl gemaltes Porträt Elizabeths II. und, durch einen Glassturz vor Staub geschützt, ein japanisches Offiziersschwert. Darüber hinaus deutete kaum etwas auf die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hin. Das scheinbar so traditionsschwere Ambiente stand jedoch in keinerlei Verbindung zum Joint Intelligence Service, der erst 1948 durch Zusammenlegung sämtlicher britischen Geheimdienste entstanden war. Der JIS hatte damals das Gebäude an der Themse mitsamt Einrichtung von einer anderen, aus Kostengründen ersatzlos aufgelösten Regierungsbehörde übernommen. Seither musste man sich mit dem begnügen, was die Vorgänger hinterlassen hatten.
Neuanschaffungen oder Umbauten befanden sich angesichts eines Budgets, das nur mit viel gutem Willen das Allernotwendigste abdeckte, weit außerhalb des Denkbaren.
Doch das war ein Schicksal, das der JIS mit allen staatlichen Einrichtungen und sogar mit dem gesamten Land teilte.
Hinter dem großen Schreibtisch saß Brigadier General Sir Hugh Holborne, der Direktor des Joint Intelligence Service. Mit seinem gewaltigen rötlichen Schnurrbart und dem dünnen grauen Haarkranz hätte er als Urbild des britischen Offiziers einer Karikatur im Punch entsprungen sein können. Dennoch war es nicht ratsam, über sein klischeehaftes Erscheinungsbild auch nur andeutungsweise zu lächeln.
Das wusste selbstverständlich auch John Tubber, der stumm vor dem Tisch stand, Haltung zu wahren versuchte und voller Unbehagen verfolgte, wie Sir Hugh mit ungnädiger Miene nochmals den Bericht über den erfolglosen Einsatz in Indien überflog.
Jetzt bloß nichts falsch machen , ermahnte Tubber sich wieder und wieder. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, wie schlecht seine Position nach den Fehlschlägen der vergangenen fünf Jahre war. Das Schicksal hasste ihn und hatte ihm jedes Mal ein Bein gestellt, sei es nun bei der Sache in Syrien oder bei der unangenehmen Angelegenheit in China. Pech war jedoch kein Argument, das man bei Sir Hugh zwecks Entlastung vorbringen durfte. Nur was sollte er stattdessen zu seiner Verteidigung anführen?
Der Brigadier klappte den Aktendeckel zu und sah Tubber strafend an.
»Was haben Sie dazu zu sagen, Lieutenant?«
Tubber schluckte einen bitteren Kloß im Hals herunter und suchte hektisch nach Worten. »Sir, die Bedingungen ... die Umstände ... will sagen, es ist mir äußerst unangenehm ...«
»So, es ist
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