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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
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Vertreter der Vereinigten Staaten sich in der Hauptstadt eines verbündeten Landes nur noch mit militärischem Schutz aus der Sicherheit ihrer mit Stacheldraht und Elektrozaun abgeschotteten Botschaft wagten. Und das sogar mit gutem Grund; es kam nicht selten vor, dass etwa eine aufgebrachte Menschenmenge beim Anstehen nach Lebensmitteln ihre aufgestaute Wut an zufällig vorbeikommenden Amerikanern ausließ. Eine unüberlegte Geste, ein als überheblich empfundenes Wort genügte dann schon, um Verbitterung in Gewalt zu verwandeln.
Natürlich berichtete die britische Presse nicht über derartige Vorfälle. Die Regierung Ihrer Majestät mochte offiziell keine Zensur ausüben, aber einer unbotmäßigen Zeitung konnte ohne Angabe von Gründen die Papierzuteilung gekürzt werden, was einem Todesurteil gleichkam. Auf diese Weise gab Whitehall den Druck weiter, der von Washington ausgeübt wurde. Und dort wünschte man nicht, dass antiamerikanische Ausschreitungen publik wurden. Trotzdem war John Tubber als Angehöriger des Joint Intelligence Service, dem ja auch die innere Sicherheit oblag, bestens im Bilde über diese Vorkommnisse. Sie sprachen sich im JIS schnell herum, und in den Mienen seiner Kollegen zeichnete sich jedes Mal, wenn wieder ein Amerikaner zusammengeschlagen worden war, ein grimmiges, hässliches Grinsen ab. Sogar bei ihm selbst, wie Tubber bei einem zufälligen Blick in einen Spiegel erschrocken festgestellt hatte.
So weit ist es mit uns gekommen , dachte er mit Unbehagen. Zum Teufel, was wird bloß aus uns? Er fühlte sich miserabel, und die grässlichen Kopfschmerzen, die vor einigen Tagen aus dem Nichts gekommen waren und die ihn seitdem unablässig heimsuchten, trugen das Ihrige noch dazu bei.
Urplötzlich und brutal wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Die Bremsen kreischten durchdringend, der Bus kam abrupt zum Stillstand. Tubber konnte sich im letzten Moment an einer Griffstange festklammern, sonst hätte ihn der heftige Ruck von der offenen Plattform hinuntergeschleudert.

Regungslos lag der Mann auf dem nassen Straßenpflaster, die zerschmetterten Gliedmaßen in bizarren Winkeln von sich gestreckt. Die eingefrorenen, schreckensverzerrten Gesichtszüge spiegelten den Horror wider, den er in der letzten Sekunde seines Lebens empfunden haben musste. Seine weit aufgerissenen Augen starrten in den dunstigen Nachthimmel. Aus dem halb offenen Mund floss ein dunkles Rinnsal von Blut, das sich mit dem dreckigen Wasser einer Pfütze vermischte.
Die Fahrgäste standen um die Leiche und wussten nicht so recht, ob sie entsetzt sein sollten oder doch eher verärgert, da sie wegen dieses Unfalls noch später nach Hause kamen, als sie es ohnehin erwartet hatten. Kreidebleich lehnte der Busfahrer am Kühlergrill und musste sich zusätzlich auch noch auf den Kotflügel stützen.
»Er war plötzlich da«, stotterte er und nahm einen Schluck aus dem Flachmann, den ihm der Schaffner in die Hand gedrückt hatte. »Einfach so, aus dem Nichts. Er stand mitten auf der Straße, schaute ins Scheinwerferlicht und bewegte sich nicht, wie angewurzelt!«
»Verdammtes Pech«, murmelte Tubber, doch besonders nah ging ihm der Tod dieses Mannes nicht. In siebzehn Jahren Dienst beim JIS hatte er wohl schon weit über hundert Leichen gesehen, von denen die meisten weitaus schlimmer zugerichtet gewesen waren als diese. Allerdings war ihm noch keine in einer so merkwürdigen Aufmachung untergekommen. Das Haar des toten Unbekannten war weiß gepudert, über den Ohren in längliche Locken gelegt und im Nacken zu einem fast unterarmlangen Zopf zusammengefasst, straff umwickelt von einem schwarzen Seidenband. Er trug einen frackartig geschnittenen Rock, wie er vielleicht um das Jahr 1780 herum Mode gewesen war, Kniebundhosen mit Seidenstrümpfen, Schnallenschuhe, eine bestickte Weste und ein aufgebauschtes Halstuch aus weißer Spitze. Sein Hut, ein dunkler Dreispitz, lag neben ihm auf der Straße.
Komischer Bursche ... herausgeputzt wie zu einer Gartenparty bei Pitt dem Jüngeren , dachte Tubber und kratzte sich irritiert am Kinn. Er wandte sich an den Schaffner: »Haben Sie eine Ahnung, woher der kommen könnte? Vielleicht ein Schauspieler, der gerade Pause hat. Gibt es hier in der Nähe ein Theater?«
»Nee, Guv'nor«, entgegnete der Schaffner kopfschüttelnd mit näselndem Cockney-Akzent, »solche Typen gibt's jetzt öfter. Haben einen Knacks weg, versteh'n Sie? Mein Schwager hat mir neulich von 'nem echten Professor erzählt, den
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