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Veritas

Titel: Veritas
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Eine Verabredung
    Der große Saal erglänzt im bronzenen Schimmer der Einrichtung und Voluten, hell strahlen die Kerzen.

    Abbé Melani lässt auf sich warten. Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren.
    Immer fand ich ihn am vereinbarten Treffpunkt vor, wo er seit geraumer Zeit auf mich wartete, nervös mit dem Fuß wippend und voller Ungeduld. Jetzt hingegen bin ich derjenige, der den Blick fortwährend auf das erhabene, monumentale Eingangsportal richtet, dessen Schwelle ich vor über einer halben Stunde durchschritten habe. Dem eiskalten, schneeigen Wind trotzend, der durch die offenen Torflügel dringt und sie zum Knirschen bringt, suche ich vergeblich nach Anzeichen für den bevorstehenden Einzug des Abbés: das Hufegeklapper des Vierspänners, die im Fackelschein auftauchenden, federbuschgeschmückten Köpfe der Pferde, welche die schwarze Galakutsche bis vor die große Freitreppe ziehen werden. Dort erwarten vier alte Lakaien, in winterliche, von Schnee bedeckte Paletots gehüllt, ihren noch älteren Herrn, um ihm den Kutschenschlag zu öffnen und ihm einmal noch beim Aussteigen behilflich zu sein.
    Um die Wartezeit zu überbrücken, lasse ich meinen Blick schweifen. Rings um mich herum prangen die kostbarsten Dekorationen. Draperien, bestickt mit verschiedenen goldenen Inschriften, hängen von den Arkaden, Brokatdecken verkleiden die Wände, und Schleier mit silbernen Tropfen formen eine Ehrengalerie. Säulen, Bögen und Pfeiler aus künstlichem Marmor führen zu dem Baldachin in der Mitte des Saales, einer Art Pyramide ohne Spitze, die auf einem sechs oder sieben Stufen über dem Fußboden sich erhebenden Podest ruht und von einer dreifachen Reihe Kandelabern umgeben ist.
    An ihrem oberen Ende warten zwei geflügelte Wesen aus Silber, jedes auf einem Bein kniend, mit weit ausgestreckten Armen, die Hände zum Himmel gerichtet.
    Myrten- und Efeuranken zieren die vier Seiten des Baldachins, und auf jeder thront, aus frischen Blumen geformt, die wohl direkt aus Versailler Gewächshäusern stammen, das Wappen des venezianischen Adels mit dem Schweinchen auf grünem Grund. An den Ecken flackern mächtige Fackeln auf hohen, silbernen Dreifüßen, auch diese mit dem Wappen geschmückt.
    Trotz der Prächtigkeit des Castrums und der pompösen Ausschmückung sind nur wenige Menschen im Raum: Abgesehen von den Musikanten (die bereits Platz genommen und ihre Instrumente ausgepackt haben) und den Pagen in schwarzen, roten und vergoldeten Livreen (die frisch barbiert und stocksteif wie Statuen die Fackeln halten) entdecke ich nur heruntergekommene, neidisch dreinschauende Adelige in Geldnot und eine Schar Arbeiter, Diener und Weiber aus dem Volk, die sich trotz der späten Abendstunde und des eisigen Frostes verzückt umsehen, während sie auf den Geleitzug warten.

    Nun beginnen auch die Erinnerungen umherzuschweifen. Sie verlassen den bleigrauen Pariser Winter über der menschenleeren Place des Victoires, wo ein zorniger Nordwind um die Reiterstatue des alten Königs herumwirbelt. Dann kehren sie zurück, weit zurück, gleiten über die sanften Hänge der Ewigen Stadt und wandern bis auf den höchsten Punkt des Gianicolo , bis zu dem Tag zurück, als ich in der blendenden Hitze eines langvergangenen römischen Sommers, umgeben von Angehörigen eines anderen Adels und von weit anmutigeren Bauten aus Pappmaché, wo ein anderes Orchester für die musikalische Untermalung eines anderen Ereignisses probte und die Pagen sich anschickten, Fackeln zu tragen, die eine andere Geschichte erhellen würden, verstohlen die Ankunft einer Kutsche auf dem Eingangsweg der Villa Spada beobachtete.
    Wunderliche Launen des Schicksals: Damals ahnte ich nicht, dass jene Kutsche mir den Abbé Melani, nachdem ich achtzehn Jahre nichts von ihm gehört hatte, zurückbringen würde; heute indessen weiß ich mit Gewissheit, dass Atto binnen Kürze hier eintreffen wird. Doch die Kutsche, die ihn zu mir führen soll, will noch nicht am Horizont auftauchen.
    Der polternde Lärm eines Orchestermusikers, der von der Bühne gesprungen ist, hat meine Gedanken kurz unterbrochen. Ich hebe den Blick:

    Obsequio erga Regem

    ist mit goldenen Buchstaben auf das schwarzsamtige Drapeau mit silbernen Fransen gestickt, das die hohe, schlichte Säule aus ephemerem Porphyr schmückt. Es gibt eine weitere, mit dieser vollkommen identische Säule auf der anderen Seite, deren Inschrift jedoch zu weit entfernt ist, dass ich sie lesen könnte.
    In meinem ganzen Leben
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