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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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    Blut
    Kurz nach Mitternacht komme ich nach Hause. Das Kind ist bei seiner Mutter, die Freundin nicht da, ich bin allein in der Wohnung. Im Kühlschrank finde ich ein angebrochenes Glas Apfelmus, beginne zu löffeln und schaue dabei in die Zeitung, die noch auf dem Küchentisch liegt, ich lese etwas über Mücken und die Frage, warum sie bei Regen nicht von den fallenden Tropfen erschlagen werden. Noch bevor ich genau verstanden habe, wie sie überleben, kratzt mich etwas im Hals. Habe ich mich verschluckt? An Apfelmus?
    Ich stehe auf, gehe ins Bad, sehe in den Spiegel und finde nichts Besonderes, alles wie immer, ich bin ein wenig blaß vielleicht. Weil ich nun aber schon im Badezimmer bin, will ich mir auch die Zähne putzen, ich will ja bald ins Bett – spüre im selben Augenblick aber, daß ich mich gleich übergeben muß. Ich drehe mich um, beuge mich über die Badewanne, da schwappt es schon aus mir heraus. Als ich die Augen öffne, wundere ich mich über das viele Blut in der Wanne. Langsam läuft es Richtung Abfluß.
    Ich weiß, was das bedeutet. B., mein Arzt, der mich seit meinem zwölften Lebensjahr behandelt, hat mich oft genug, seit Jahren schon, gewarnt. Ich weiß, daß die Ösophagusvarizen, die Krampfadern in meiner Speiseröhre, geplatzt sind, ich weiß, daß ich nun nach innen blute und nicht ohnmächtig werden darf, ich muß den Notarzt rufen. Trotzdem überlege ich, ich überlege sehr langsam, mit einem Taxi in die Klinik zu fahren, entscheide mich dann aber doch für den Notarzt. Im Spiegel sehe ich, daß ich noch bleicher geworden bin, gehe das Telefon suchen und finde es im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch. Es gelingt mir tatsächlich, den falschen Notruf zu wählen, ich wähle eins-eins-null und höre eine Stimme sagen: Für einen Rettungswagen müßten Sie schon die eins-eins-zwei anrufen. Ich lege auf und frage mich, ob das ein Zeichen war. Soll ich lieber zu Hause bleiben? Ist es vielleicht übertrieben, einen Krankenwagen zu rufen? Ich warte eine Minute, das Telefon in der Hand, und sage mir dann, daß ich hier besser nicht verbluten sollte, nächste Woche, noch sind Osterferien, ist das Kind ja wieder da. Also wähle ich, das geht ganz leicht, die Tasten liegen nebeneinander, eins-eins-zwei. Eine freundlichere Stimme meldet sich und sagt, ich solle die Wohnungstür öffnen und offen lassen – ich entschließe mich jedoch dazu, Schuhe und Mantel wieder anzuziehen und dem Arzt entgegenzugehen. Ich weiß ja, hier kann er nichts für mich tun, ich muß ins Krankenhaus.
    Ich begegne dem Notarzt und den beiden Rettungssanitätern im Treppenhaus, grüße und sage: Ich bin’s, ich muß in die Klinik, und merke gleich, sie halten mich für einen Simulanten, sie haben die Badewanne nicht gesehen. Im Krankenwagen, ich sitze auf dem Transportstuhl, Rücken in Fahrtrichtung, weiß der Arzt nichts mit mir anzufangen, er sieht sich meinen Notfall- und den Organspendeausweis an. Ich sage, ich muß ins Virchow, Charité Campus Virchow, berichte von meiner Autoimmunhepatitis, der Zirrhose, den Ösophagusvarizen und dem Überdruck in den Gefäßen vor meiner kranken Leber, ich spreche und spreche, da spüre ich wieder etwas im Hals. Eine Hand bekomme ich noch vor den Mund, doch das Blut schießt schon mit solcher Gewalt aus mir heraus, daß ich den halben Wagen vollspritze. Eine Szene wie in einem Splatterfilm, über die ich lachen könnte, nur daß hier leider kein Kunstblut spritzt. Der Notarzt, mein Blut läuft ihm über beide Brillengläser, wirkt erschrocken. Er legt mir einen Zugang und gibt Kochsalzlösung, der Wagen fährt endlich an. Kurze Zeit später, ich sehe die Wipfel der Straßenbäume und die Sterne über mir – warum, wundere ich mich, hat dieser Rettungswagen nun kein Dach mehr –, muß ich mich wieder übergeben. Im Liegen treffe ich nur halb in die durchsichtige Tüte, die mir hingehalten wird, das meiste geht daneben, schwappt auf den Boden, und ich weiß, wird diese Blutung nicht schnell gestoppt, bin ich bald tot.

Indikation: Anamnestisch bekannte gastrointestinale Blutung. Anamnestisch bekannte Varizenerkrankung.
Medikation: 100 mg i.v. Propofol.
Befund: Im unteren Drittel des Ösophagus sind vier Varizenstränge von mehr als 5 mm Durchmesser zu sehen (Varizen ragen 50% des Lumendurchmessers vor bzw. berühren sich, Grad III). An der Minorseite reichen die Varizen bis unterhalb der Kardia. Auf den Varizen red colour signs. Es liegt eine aktive
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