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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
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um die Erlaubnis, eine Frage stellen zu dürfen, Sir.«
Sir Hugh nickte sehr knapp, und Tubber fuhr fort: »Ich verstehe nicht, weshalb ein kleiner Dieb, der vielleicht einfach nur irgendwo ein Bild gestohlen hat, um es auf dem Schwarzmarkt gegen eine Schachtel Zigaretten einzutauschen, bedeutend genug ist für eine Untersuchung durch den Geheimdienst, Sir.«
»Der Dieb selber ist absolut unwichtig. Damit Sie es wissen, unsere verehrten amerikanischen Freunde« – der Brigadier legte einen Abgrund von unterschwelliger Verachtung in das Wort – »behelligen uns seit Monaten mit immer neuen Forderungen, ihnen alles mitzuteilen, was wir über Kunstschieberbanden wissen, die allem Anschein nach besonders in Deutschland aktiv sind. Was dahintersteckt, vertrauen uns unsere Verbündeten wie üblich natürlich nicht an. Aber dieser Tote in Kassel hatte nun einmal ein altes Gemälde bei sich, und das wird sicher bald auch das Interesse der Amerikaner erregen. Der Fall an sich hat zweifellos nicht die geringste Bedeutung für Großbritannien, aber ich will verhindern, dass die Amerikaner die Sache an sich reißen, wie sie es ja gerne tun. Wir dürfen ihnen auf gar keinen Fall durch Untätigkeit einen Vorwand liefern, noch dreister in unserem Territorium zu wildern, als sie es ohnehin schon tun. Ob Ihre Ermittlungen Resultate hervorbringen, ist dabei zweitrangig, und ich erwarte es angesichts Ihrer Unfähigkeit auch gar nicht. Sie reisen morgen ab, verstanden?«
Auch ohne in einen Spiegel zu sehen, wusste Tubber, dass er leichenblass war.

Eingekeilt in einen Pulk von mindestens dreißig Menschen, die alle auf den gleichen Bus warteten wie er selbst, stand John Tubber an der Haltestelle Northumberland Avenue. Es wurde bereits dunkel, und da in London aus Kostengründen nur noch jede dritte Straßenlaterne in Betrieb war, tauchte der hereinbrechende Abend die Umgebung in einförmiges, stumpfes Dämmerlicht. Im spärlichen Schein der wenigen funktionierenden Lampen wirkten die heruntergekommenen grauen Fassaden der hoch aufregenden Gebäude noch düsterer und trostloser als bei Tage.
Ein kalter Windstoß trieb Tubber einen Schwall Schneeregen ins Gesicht. Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte er ein Schimpfwort und wischte sich mit dem Ärmel seines durchweichten, bräunlich grünen Militärmantels die Nässe von der Stirn. Er hasste diesen Mantel. Jedes Mal, wenn er ihn trug, kam er sich wie ein Almosenempfänger vor. Die amerikanische Regierung hatte in einem Anfall von Großzügigkeit zwanzigtausend dieser überzähligen Mäntel aus Militärbeständen dem britischen Verteidigungsministerium überlassen, und einer davon war, vermutlich durch einen Irrtum, ihm zugeteilt worden. Die Kleiderspende vom reichen Onkel jenseits des Atlantischen Ozeans war eine einzige Demütigung. Trotzdem trug Tubber den Mantel; es gab halt Situationen, in denen man sich Stolz nicht leisten konnte.
Endlich kam der Bus und hielt mit grell ächzenden Bremsen. Zwar war der rote Doppeldecker nahezu voll besetzt, doch davon ließ John Tubber sich nicht beeindrucken. Er hatte nicht die Absicht, über eine Stunde auf den nächsten Bus zu warten. und bahnte sich daher seinen Weg mithilfe verschiedener rüder Griffe, die er bei der Kampfausbildung erlernt hatte; sie erwiesen sich jedoch, wie er schon öfters feststellen konnte, auch im rauen Alltag als äußerst nützlich. So gelang es ihm, sich noch einen Stehplatz zu sichern, während die übrigen Wartenden das Nachsehen hatten und an der Haltestelle zurückbleiben mussten.
Unter lautem Motorendröhnen setzte sich der Bus schwerfällig in Bewegung.
Tubber schätzte sich glücklich, an der offenen Einstiegsplattform am Heck zu stehen.
Es war dort vielleicht kalt und zugig, aber er konnte wenigstens einatmen, ohne dass ihm übel wurde. Den dumpfen Gestank von feuchter Kleidung, Körperausdünstungen und verbrauchter Luft, der im Inneren des Busses über den dicht zusammengedrängten Leuten hing, konnte er nicht ertragen. Und das wollte nach Monaten in Indien, wo man in den engen Nebenstraßen der Städte ständig von ekelerregenden Gerüchen eingehüllt wurde, schon etwas heißen. Bus fahren war im London dieser Tage nichts für Ästheten.
Als Tubber auf die Straße hinausblickte, sah er einen chrombeladenen schwarzen Cadillac der amerikanischen Botschaft, eskortiert von zwei Jeeps der Militärpolizei, an dem träge dahinrumpelnden Bus vorbeiziehen. Er fand es bezeichnend, dass die diplomatischen
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