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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
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nachdenken. Stattdessen ließ er den Blick zum anderen Rand der Karte hinüberwandern.
Dorthin, wo sich westlich des Rheins die Rheinische Republik befand, ein Retortenstaat, den Frankreich schon 1947 auf dem Gebiet seiner Besatzungszone ins Leben gerufen hatte und der eigentlich nur dem Zweck diente, als unübersehbare Siegestrophäe in allen Atlanten aufzutauchen und so den Beweis dafür zu liefern, dass die Franzosen zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs gehörten. Ansonsten kümmerte sich Paris wenig um die Rheinische Republik. Der greise Präsident Adenauer, der seit seiner Einsetzung vor fünfzehn Jahren mit einem gewissen Hang zur Selbstherrlichkeit in Köln regierte, war bei der Sisyphusaufgabe, die Rheingrenze zu sichern, fast völlig auf sich gestellt. Die ärmlichen, aber wenigstens einigermaßen geordneten Verhältnisse in der Rheinischen Republik nahmen sich wie ein irdisches Paradies aus im Vergleich mit den Zuständen, die auf der anderen Seite des Stroms herrschten. Wollten die Rheinländer nicht von einer Flut ausgehungerter Flüchtlinge überrollt und erstickt werden, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als ihre Ostgrenze mit Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und bewaffneten Patrouillen zu sichern.
Und zwischen den Flüssen Oder und Rhein lag das große Nichts in Gestalt des BDL, des Bundes Deutscher Länder. Jene bis ins Extrem dezentralisierte und deindustrialisierte Ansammlung von achtundzwanzig Ländern unter einer machtlosen Bundesregierung, deren wenige Befugnisse fast ausschließlich auf dem Papier existierten. Ein absurdes Gebilde, dessen Bewohner die Wahl hatten, entweder irrezuwerden oder stumpf dahinzuvegetieren. Nicht ohne Grund hatte Tubber gehofft, nie wieder in seinem ganzen Leben hierher zurückkehren zu müssen, nachdem er diesem Land vor dreizehn Jahren entronnen war. Die Verhältnisse waren schon damals schrecklich gewesen, und nach den radikalen Maßnahmen, mit denen die Vereinigten Staaten in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren den Zweiten Morgenthau-Plan mit allen seinen Ergänzungen umgesetzt hatten, konnte es nur noch schlimmer geworden sein. Was Tubber bislang von Hamburg gesehen hatte, ähnelte auch eher der gespenstischen Kulisse zu einem surrealen Horrorfilm als einer bewohnten Stadt. Und der Rest des Landes, so viel wusste er, sah ähnlich aus.
Womit habe ich das verdient? , fragte er sich. Ich sitze in dieser Vorhölle aus Ruinen und Dreck fest, und das auch noch auf unbestimmte Zeit. Gott muss mich hassen. Tubber wollte sich schon von der Karte abwenden, weil sie ihn auf zu viele deprimierende Gedanken brachte, als sein Blick ein gelb umrandetes und schraffiertes Gebiet streifte, das sich südöstlich von Dresden beiderseits der Elbe über viele Kilometer ausdehnte, unweit der amerikanischen Uranbergwerke im Erzgebirge.
Dicke rote Buchstaben, die sonst nirgendwo auf der Landkarte verwendet wurden, kennzeichneten es als Anthrax Contaminated Area , mit dem Zusatz Access strictly prohibited .
Er überlegte einen Moment, dann fiel ihm wieder ein, dass die Deutschen dort kurz vor Kriegsende ihre gesamten Bestände an Milzbranderregern, eigentlich vorgesehen für den Bau furchtbarer Waffen, eingelagert hatten. Welche Mengen von Anthrax-Sporen sich in dem hochgradig verseuchten Sperrgebiet befanden, wusste niemand. Nur, dass dort der Tod in jedem Grashalm, jedem Tropfen Wasser und jedem Erdklumpen lauerte. Gelegentlich hatten sich Messtrupps in die Sperrzone vorgewagt, um zu ermitteln, wie stark die Verseuchung war.
Niemand war je lebend zurückgekehrt. Alle Schutzanzüge hatten versagt.
Manchmal hatte man ihre Leichen gefunden, knapp außerhalb des Sperrgebiets.
Dort, wohin sich die Sterbenden mit letzter Kraft gerade noch hatten schleppen können.
Tubber fror, und diesmal lag es weder an der Kälte noch an der nassen Kleidung.
Er hatte für einen Moment daran denken müssen, was wohl geschehen wäre, wenn der Krieg nicht schon im Juli 1945 mit der Eroberung Berlins geendet hätte und den Nazis noch Zeit geblieben wäre, in einem apokalyptischen, selbstmörderischen Akt des Wahnsinns ihre riesigen Vorräte an Milzbrandsporen mit den letzten V2-Raketen oder den verbliebenen Düsenflugzeugen über halb Europa niedergehen zu lassen.
» Der Tod ist ein Meister aus Deutschland «, murmelte er mit fast unbewegten Lippen.
Eine der Türen im Korridor wurde geöffnet. Ein junger Offizier streckte den Kopf heraus, sah Tubber und ließ ihn wissen: »So, jetzt
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