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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich
Autoren: Rebecca Gablé
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1. BUCH
    Dann erschien in ganz England ein Zeichen am Himmel, wie man es nie zuvor gesehen hatte. Manche sagten, es sei der Stern Comet, den man den »langhaarigen« Stern nennt, und er leuchtete eine ganze Woche lang Nacht für Nacht.
    Angelsachsenchronik, 1066
Helmsby, März 1064
    »Bei Gott, was für ein Treffer, Cædmon! Wer so mit einer Schleuder umgehen kann wie du, kann seinen Bogen getrost verfeuern.« Dunstan klopfte seinem jüngeren Bruder so kräftig auf den Rücken, daß dieser sich unauffällig mit der Linken auf den Sattelknauf stützte.
    Cædmon strahlte, glitt aus dem Sattel und lief die fünfzig oder sechzig Schritte, die ihn von seiner erlegten Beute trennten. Es war ein einjähriger Rehbock. Er lag reglos auf der Seite, auch die Vorderläufe zuckten nicht mehr. Sein braunes Auge starrte in den weißgrauen Himmel hinauf, der noch weitaus mehr nach Winter denn nach Frühling aussah. Auch der Waldboden unter Cædmons dünnen, knöchelhohen Lederschuhen fühlte sich noch hart an. Die alten, dicht stehenden Bäume zeigten nicht den leisesten Hauch von Grün, aber die ersten verwegenen Narzissen blühten im struppigen Gras des Vorjahres.
    Dunstan war ebenfalls abgesessen und trat zu seinem Bruder. »Meisterhaft«, wiederholte er und nickte nachdrücklich. »Mitten zwischen die Augen. Ich wette, er war schon tot, ehe er umfiel. Wie machst du das nur?«
    Der Junge hob unbehaglich die Schultern und winkte verlegen ab. Dunstan war sechzehn, zwei Jahre älter als er, und für gewöhnlich sehr sparsam mit seinem Lob. »Ich weiß nicht. Ich … seh’ auf den Punkt, den ich treffen will, und hör’ auf das Singen der Schleuder über meinem Kopf. Und dann …«
    Dunstan verpaßte ihm eine Kopfnuß der eher sanften Sorte. »Ja, ja. Erspar mir den lehrreichen Vortrag.«
    Aber du hast gefragt, dachte Cædmon verständnislos.
    »Jetzt ist jedenfalls endlich Schluß mit dem verfluchten Pökelfleisch«,bemerkte Dunstan zufrieden, beugte sich über den Bock und band ihm mit einer dünnen Lederschnur die Läufe zusammen. Dann sah er stirnrunzelnd auf. »Was ist? Hilfst du mir, oder hast du Angst, daß dir schlecht wird, wenn du Blut siehst?«
    Cædmon seufzte verstohlen, zückte sein Jagdmesser und setzte es dem Bock an die Halsschlagader. Er vermied es, in das tote braune Rehauge zu sehen.
     
    Wenig später waren sie auf dem Heimweg. Der ausgeblutete Bock lag vor Cædmon über dem Sattel, und das stämmige, gedrungene Pferd trug die doppelte Last ohne erkennbare Mühe. Eine fahle Märzsonne glitzerte auf dem Wasser des Ouse, an dessen östlichem Ufer sie entlangritten. Der Nebel, der sich den ganzen Tag über nicht so recht hatte lichten wollen, war hier am Ufer dichter. Ein paar Eisschollen trieben noch auf dem Wasser, aber der Fluß war schon wieder befahrbar. Ein Lastkahn tauchte vor ihnen aus den dichten Schwaden auf, beladen mit Fässern und Holzkohle. Der Schiffer hielt sein Gefährt mit einer langen Stange in der Strommitte und ließ sich flußabwärts treiben. Als er die beiden Reiter auf dem Uferpfad entdeckte, hob er eine Hand von seiner Ruderstange und winkte ihnen zu. Cædmon winkte zurück.
    »Das war Godric«, murmelte er.
    »Ich habe Augen«, erwiderte Dunstan trocken.
    »Ich hab ihn den ganzen Winter nicht gesehen.«
    »Nein, weil er sich den Winter über in seiner Hütte verkriecht wie ein Bär in seiner Höhle, sich von früh bis spät mit Bier vollaufen läßt oder eine seiner zahllosen Schwestern bespringt, bis das Tauwetter kommt und er wieder hinausfahren kann.«
    »Dunstan!« rief Cædmon schockiert aus.
    Sein Bruder schnitt eine verächtliche Grimasse. »Entschuldige, Schwesterchen …«
    Cædmon schwieg beleidigt. Der Uferpfad verengte sich, so daß sie hintereinander reiten mußten, und das war ihm nur recht. Dunstan sollte nicht sehen, wie ihm das Blut in die Wangen geschossen war, und Cædmon drückte seinem struppigen Kaltblüter die Fersen in die Seiten und zog eine Länge vor. Laß ihn nur reden, dachte er. Aber ich war es, der den Bock erlegt hat.
    »Sag, Cædmon, jetzt mal ganz ehrlich. Bist du noch Jungfrau?« fragte Dunstan mit vermeintlichem brüderlichem Wohlwollen. Doch Cædmonhörte das mutwillige Grinsen in seiner Stimme, er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um es zu sehen.
    Er errötete schon wieder. Das schien ihm in letzter Zeit ganz besonders häufig zu passieren. Über den Winter hatte sein Körper begonnen, sich auf geradezu bestürzende Weise zu verändern. Er hatte
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