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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich
Autoren: Rebecca Gablé
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hatte Cædmon seinen Vatersagen hören, denn König Edward sei ein Heiliger, kein Krieger. Cædmon hoffte, das Drachenschiff, das den Ouse hinaufgesegelt war, kündigte nicht das Ende der ruhigen Jahre an. Er hatte keine Zweifel, daß sein Vater und die Housecarls , die in seinem Dienst standen, in der Lage waren, Haus und Hof zu verteidigen. Und auch er selbst und seine Brüder hatten gelernt, ein Schwert, eine Streitaxt und eine Pike zu führen. Von der Bandschleuder ganz zu schweigen. Trotzdem flößte die Vorstellung von einem neuen Däneneinfall ihm Angst ein. Genaugenommen, mußte er feststellen, erfüllte der Gedanke ihn mit Grauen. Die hölzerne Tür zu der kleinen Kammer hinter der Halle öffnete sich geräuschlos, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine Wasserschüssel. Sie stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich über ihn.
    » Comment vas tu, mon fils? «
    Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Cædmon lehnte den Kopf in die Kissen zurück. »Na ja. Wie soll es einem Mann gehen, der gerade mit der Erkenntnis ringt, daß er ein Feigling ist?«
    Sie lachte ihr leises, warmes Lachen. »Ein Feigling? Du? Das wäre mir ganz neu. Nein, nein, Cædmon. Du hast ein Herz so groß wie Beowulfs.« Sie sah kurz auf den gefiederten Schaft in seinem Oberschenkel. »Und das wirst du auch brauchen.«
    Cædmon schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema. »Was macht Dunstan?«
    »Oh, Dunstan ist schon wieder ganz der Alte. Er sitzt drüben in der Halle, einen beeindruckenden Verband um die Stirn und einen vollen Becher vor sich und erfreut die Dienerschaft mit der Geschichte, wie er dich vor den Dänen errettet hat.«
    »Ganz falsch«, tönte Dunstans laute Stimme von der Tür. »Er hat sich besonnen und ist gekommen, um euch zu helfen.«
    Cædmon hob abwehrend die Rechte. »Verschwinde …«
    Ehe Dunstan widersprechen konnte, öffnete die Tür sich erneut, und die drei übrigen Geschwister schlüpften herein.
    »Wir wollten nur kurz nach ihm sehen«, sagte der dreizehnjährige Guthric hastig, um den Vorhaltungen seiner Mutter zuvorzukommen. Zögernd, ein bißchen ängstlich traten sie auf das breite Bett zu. Als sie den Pfeil und den großen Blutfleck auf dem Bein ihres Bruders sahen, wandte der kleine Eadwig sich abrupt ab und vergrub das Gesicht in den Röcken seiner Schwester.
    Hyld legte ihm die Hand auf den Kopf. »Wird es gehen?« fragte sie Cædmon besorgt.
    Er rang sich ein Lächeln ab. »Noch besteht jedenfalls kein Grund, die Totenwache zu halten. Schert euch raus.«
    Alle vier wandten sich ab, doch seine Mutter rief ihren Ältesten zurück. »Dunstan, dich werde ich brauchen.«
    Dunstan blieb stehen, aber Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich will Guthric.«
    Niemand erhob Einwände. Dunstan führte seine Schwester und seinen jüngsten Bruder hinaus, zog die Tür hinter sich zu, und sie hörten ihn lachen, eine Spur nervös vielleicht.
    Guthric war der einzige der fünf Geschwister, der seiner normannischen Mutter wirklich glich. Seine Haare waren glatt und so dunkelbraun, daß sie bei schwachem Licht schwarz wirkten, ebenso dunkel waren seine Augen. Wäre diese offenkundige Ähnlichkeit nicht gewesen, hätte es gewiß Spekulationen über Guthric gegeben. Auch so konnte man die Köchin gelegentlich raunen hören, Guthric sei ein Wechselbalg, ein Feenkind. Er war still, ein Träumer; stundenlang konnte er manchmal draußen im Hof sitzen und den Vögeln lauschen, so als verstünde er ihre Sprache. Vor einiger Zeit hatte Guthric den Wunsch geäußert, nach Ely ins Kloster zu gehen und lesen zu lernen. Sein Vater hatte ihn ausgelacht, und danach war die Angelegenheit nie wieder erwähnt worden.
    Cædmon liebte seine Geschwister ausnahmslos, aber alle auf andere Weise. Er bewunderte Dunstans unbekümmerte Verwegenheit, so sehr, daß er ihm seine Derbheit meist verzeihen konnte. Er mochte Hylds Scharfsinn und ihre Großzügigkeit, und wie jeder in der Familie vergötterte er seinen kleinen Bruder Eadwig. Aber Guthric stand ihm näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Guthric konnte er Dinge anvertrauen, die ihn beschämten, denn Guthric urteilte nie nach allgemeingültigen Grundsätzen. Er hatte ein ganz eigenes Bild von der Welt, ein Bild, das Cædmon nie so recht begreifen konnte, aber das spielte keine Rolle. Mit einem schwachen Lächeln stieg Guthric auf das hohe Bett, richtete Cædmon ein wenig auf und glitt hinter ihn. »Ich dachte, du wolltest zur Jagd. Mir war
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