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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich
Autoren: Rebecca Gablé
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einen ordentlichen Schuß getan und war jetzt ebenso groß wie Dunstan und sein Vater, aber das war es nicht allein. Sein Bartwuchs hatte eingesetzt, seine Stimme veränderte sich, er wurde von Träumen geplagt, an die er nicht denken konnte, ohne wieder aufs neue rot anzulaufen, und all das erschien ihm fremd, machte ihn so unsicher, daß es ihm manchmal vorkam, als lebe er im Körper eines Fremden.
    »Antworte, Cædmon«, befahl Dunstan mit der befehlsgewohnten Stimme des Älteren. »Wenn es so ist, wüßte ich, wie wir Abhilfe schaffen könnten. Ehe du auf die Idee kommst, dich an den Schafen zu versuchen.«
    Ein neuerliches, empörtes »Dunstan!« lag Cædmon auf der Zunge, aber er besann sich und wandte lediglich den Kopf, um seinem Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Doch statt dessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
    »Heiliger Edmund, steh uns bei … Reite, Dunstan! Los, komm schon!« Dunstans Miene zeigte eine Mischung aus Verwunderung und gönnerhafter Belustigung, und statt dem guten Rat zu folgen, wandte er den Blick ebenfalls zum Fluß. »Oh, mein Gott … Ein Drache!«
    Damit hatte er genug gesehen. Er rammte seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Cædmon war schon angaloppiert. Er hörte ein seltsam surrendes Geräusch, wie das Summen einer Hornisse, und zog den Kopf ein. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz im linken Bein und schrie entsetzt auf. Sein sonst so gleichmütiges Pferd bäumte sich plötzlich auf, legte die Ohren an und bockte. Cædmon warf sich nach vorn, um im Sattel zu bleiben, doch das Tier wieherte angstvoll, stieg, und dann pflügte Dunstans Pferd in seine Seite. Sie stürzten in einem wirren Durcheinander aus Hufen, Armen und Beinen. Ein harter Stoß traf Cædmon in den Rücken, und er lag einen Moment still, unfähig zu atmen oder sich zu rühren. Wieder erklang das unheilvolle Surren, und er überwand seine Schwäche und kroch auf dem Bauch in das dichte Unterholz neben dem Pfad. Dann lag er still, hielt sein Bein umklammert und lauschte.
    Es kam ihm vor, als habe er Stunden so gelegen. Die Stille war beinahvollkommen, nur ganz leise war das Plätschern des Flusses zu vernehmen.
    Schließlich sammelte Cædmon seinen Mut und hob den Kopf. »Dunstan?«
    Sein Pferd stand nur wenige Schritte entfernt auf dem Pfad. Offenbar war es ein Stück gerannt und dann zurückgekehrt; der Rehbock schleifte am Boden. Dunstans Brauner war hingegen nirgendwo zu sehen, doch sein Bruder selbst lag gleich neben ihm, halb auf dem Uferpfad, halb im Dickicht. Sein Gesicht war Cædmon zugewandt, und was durch die wirren, blonden Haare hindurch davon erkennbar war, wirkte todesbleich. Dunstan lag vollkommen reglos.
    »Nein …« Cædmon richtete sich halb auf. Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch sein Bein, und er sah es zum erstenmal an. Ein kurzer, hellgefiederter Pfeil steckte seitlich in seinem Oberschenkel. »Gott verflucht. Dunstan?«
    Sein Bruder regte sich nicht. Cædmon robbte zu ihm hinüber und strich die Haare aus Dunstans Stirn. Dann legte er ihm furchtsam eine Hand auf die Brust. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig. Ein wenig erleichtert untersuchte er den Kopf des Bruders. Unter dem Haaransatz fand er eine anschwellende Beule. Anscheinend hatte Dunstan einen Huftritt vor die Stirn bekommen. Cædmon rüttelte ihn zaghaft an der Schulter. Nichts.
    »Gott, was tu’ ich denn jetzt nur?«
    Er sah auf den Fluß hinaus. Der Drache war verschwunden, zweifellos weiter flußaufwärts gezogen. Cædmon wußte, er mußte nach Hause reiten. Seinen Vater und die anderen warnen.
    »Und je länger du hier herumsitzt, um so dunkler und kälter wird es werden«, murmelte er. Unbewußt versuchte er, Dunstans Stimme zu imitieren, denn nichts konnte ihn so dazu anspornen, über sich hinauszuwachsen, wie die Herablassung seines Bruders.
    Cædmon zog das gesunde Bein an, biß die Zähne zusammen und stand auf. Doch sobald er das angeschossene Bein mit seinem Gewicht belastete, zuckte der Schmerz bis in die Hüfte hinauf. Als er die wenigen Schritte zu seinem Pferd zurückgelegt hatte, weinte er.
    Er umfaßte den Sattelknauf mit beiden Händen und sah im schwindenden Licht an seinem linken Bein hinab. Blut tränkte seine Hosen aus dunklem Wollstoff, der Fleck hatte beinah die gekreuzten Lederbänder erreicht, die seine Waden bis zum Knie umschlossen, und breitete sichweiter aus. Besser nicht hinsehen, dachte er. Er nahm sein geduldiges Reittier am Zügel. »Komm, Beorn.
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