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Murats Traum

Murats Traum

Titel: Murats Traum
Autoren: Fabian Kaden
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Wie es anfing
     
    Philipp fehlt mir. Überall sehe ich ihn, stelle mir vor, wie er den Kühlschrank aufmacht, sich davor hinhockt. Die Spannung seiner Schenkel. Sein verschlafenes Lachen am Morgen fehlt mir. Wie er ins Bad geht. Sein Atmen, wenn er ausgepumpt neben mir liegt. Sein Lächeln im Schlaf, wenn ich ihn berühre. Seine Stimme fehlt mir, sein Geruch. Ich wusste gar nicht, was einem alles fehlen kann! Ist das noch normal?
    Keine zwei Tage ist er erst weg, und schon renne ich durch die Gegend wie halbiert. Ich rieche an seiner Wäsche. Ich benutze sein Handtuch. Seine wachen Augen fehlen mir, sein Zuhören. Sein Spott. Und dass seine Hände mich anfassen! Ich habe das nicht gewollt, dieses Gejammer, und fluche vor mich hin. Bei andern sieht es lächerlich aus, wenn sie jemanden so sehr vermissen, dass sie nichts mehr essen wollen, zum Beispiel. Ich habe wirklich keinen Hunger, na und? Ich sitze in Philipps Küche und vermisse ihn.
    Ein nasses, gelbes Ahornblatt wird vom Herbstwind gegen das Fenster getrieben, bleibt eine Weile dort kleben. Das war unser erster Sommer. Die große Wohnung ist so leer. Wie soll ich das drei Wochen durchstehen, wenn es nicht besser wird? Dass mir so etwas passieren konnte! Ich habe nicht mal gemerkt, wie ich da hineingeraten bin. Irgendwann habe ich offenbar den Überblick verloren. Mir scheint, ich muss dringend Ordnung schaffen in meinem Kopf. Wo fange ich an? Philipp. Philipp. Was machst du mit mir?
     
    Ich kenne Philipp seit dem siebzehnten Mai, Punkt. Das Datum merkt sich deswegen so gut, weil es der Tag nach Murats einundzwanzigstem Geburtstag war; wir hatten die Nacht durchgemacht und sahen ziemlich mitgenommen aus, als wir am Morgen im Einkaufscenter unsere Namen in die Komparsen-Liste schrieben. Vier Einstellungen wurden gedreht, aber bloß in einer brauchten sie uns, und die kam natürlich zuletzt dran, das hieß warten, warten. «Echt, Mann», murrte Murat, «das steh ich nicht durch. Nicht heute ...»
    Murat ist mein bester Kumpel, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Während ich noch drei verschenkte Jahre dranhängte, machte er eine Mechanikerlehre in der Autowerkstatt seines Onkels, und als es zum gro ßen Krach mit seiner sittenstrengen Sippe kam, hielt dieser Onkel als einziger zu ihm. Er ließ Murat sogar in der Werkstatt einziehen, in einen kleinen Anbau hinterm Büro, wo er in jüngeren Jahren seine Nutten hinbestellt hatte. Manchmal pennt Murat bei mir, meine Eltern mögen ihn, ansonsten haust er eben auf diesen fünfzehn Quadratmetern in dem Geruch nach Reifen und Öl, den ich dort immer so begierig einsauge, worauf sich Murat an die Stirn tippt.
    Murat besteht aus zwei Wesen, einem dunklen und einem hellen. Das Dunkle ist grüblerisch und maulfaul, reizbar und bis auf die Knochen unzufrieden. Das Helle besteht darin, dass ihm alles zufliegt. Er liest die Gebrauchanleitung einer terrestrischen Rakete nur flüchtig durch und erfasst sofort, wie das Ding ins Herz des Bösen zu lenken ist, zisch, irgendwo dort drau ßen. Er geht zwar auch in eines dieser Kampfsportstudios, aber ohne jeden Ehrgeiz, eher zum Quatschen und Duschen. Wo andere zehn Jahre Muckibude brauchen, macht Murat mal eben ein paar Liegestütze, und fertig ist die Topfigur. «Gott, ist der schön, der Murat», seufzt meine Mutter manchmal. Damit hat sie’s ungefähr beschrieben. Murat schaut mit seinen schwarzen Augen die Welt an, und die Welt legt sich vor ihm hin.
    Wir sind ein gutes Team, Murat und ich, und es passiert eigentlich selten, dass wir blöde angemacht werden. Ich kloppe mich nicht gern, nur wenn es sein muss. Murat ist auch kein Schläger, aber in ihm hockt so ein unnachgiebiger Stolz, der uns manchmal Ärger macht. Er erträgt es nicht, im Gegensatz zu mir, einfach mal klein beizugeben gegen Schwachk öpfe, von denen unser Viertel reichlich hat. «Aufs Maul, Alter! Wozu sind die Idioten sonst geschaffen? Allah ist groß, und er muss sich was dabei gedacht haben, als er uns die Idioten gab.»
    Eigentlich kommt er mit allen zurecht, auch ohne sich anzubiedern. Schon an unserer Schule teilten sich zwei Cliquen die Macht, und beide warben ganz offen um Murat. Er konnte bei ihren Treffs auftauchen, wie er Lust hatte, aber er blieb nicht hängen. Er ist ein Einzelgänger, genau wie ich. Wir passen gut zusammen, finde ich. Vielleicht besteht darin die Chance der Einzelgänger: dass sie sich irgendwann zusammentun.
    Früher haben wir ständig gekifft, in den Hofpausen und nach dem
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