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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht
Autoren: Barbara Nadel
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gab ihr einen langen, zärtlichen Kuss, der besser als alle Worte ausdrückte, wie sehr er sie vermisst hatte.
    Der Pathologe und Yümniye Heper saßen am Küchentisch, als İkmen den Raum betrat. Außerhalb ihrer gewohnten Umgebung wirkte die Schneiderin älter und kleiner als sonst. Die beiden Männer umarmten sich, und İkmen nahm seinen Besuchern gegenüber Platz. Fatma, die ihm aus dem Schlafzimmer gefolgt war, servierte Kaffee, bevor sie sich wieder der Wohnung widmete, die sie ihrer Ansicht nach völlig verdreckt vorgefunden hatte.
    »Ich werde Fräulein Muazzez’ Leichnam heute zur Bestattung freigeben«, begann Arto Sarkissian und häufte Unmengen Zucker in seinen Kaffee.
    »Ich war so froh, als ich heute Morgen Artos Stimme hörte«, sagte Yümniye und lächelte die beiden Männer an. »Es tut gut zu wissen, dass ihr armer Körper in freundliche Hände gelangt ist. Ich weiß noch, wie ihr zwei als kleine Jungen mit euren Brüdern in unserem Garten gespielt habt. Ihr wart so brav damals.«
    İkmen und sein Freund tauschten ein verstohlenes Lächeln. Ja, General Hepers Garten hatten sie wirklich geliebt, vor allem, weil man dort jede Menge Obst von den Bäumen klauen konnte.
    »Ich habe Fräulein Yümniye mitgebracht«, fuhr der Armenier fort, »weil sie sich sehr freuen würde, wenn wir beide zu Fräulein Muazzez’ Bestattung kommen könnten.«
    »Jetzt, wo Muazzez nicht mehr bei mir ist, habe ich nur noch entfernte Verwandte«, sagte die alte Frau traurig, »aber ihr beide kanntet sie schon als junge, lebenslustige Frau. Ihr habt wirklich alles getan, was ihr tun konntet.«
    »Wir fahnden immer noch nach dem Wagen, der Fräulein Muazzez angefahren hat«, sagte İkmen und zündete sich die erste Zigarette des Tages an. »Ich habe die Hoffnung …«
    »Dass du diejenigen findest, die für den Harem verantwortlich sind?« Yümniye schüttelte den Kopf. »Ach, das wird dir nicht gelingen, Çetin. Niemals.« Sie blickte in das verwirrte Gesicht von Arto Sarkissian und zuckte die Achseln. »Die Leute halten solche Dinge nicht vierzig Jahre lang geheim, um dann wegen einer alten Frau alles zu verlieren. Ich wusste nie auch nur halb so viel wie Muazzez, aber da bin ich mir absolut sicher. Ich nehme nicht an, dass Sofia, die dumme Gans …«
    »Habe ich irgendetwas verpasst?«, unterbrach Arto. »Was für ein Harem?«
    İkmen dachte daran, dass er solche Gespräche in seiner Wohnung lieber nicht führen sollte, vor allem, wenn Namen genannt wurden, und wechselte das Thema.
    »Was werden Sie jetzt tun, Fräulein Yümniye?«, fragte er.
    Die alte Frau seufzte. »Oh, ich werde wohl weitermachen wie bisher«, sagte sie. »Es liegt mir viel daran, das Haus meines Vaters zu behalten, solange ich noch nicht zu verwirrt dafür bin.«
    »Ich komme Sie besuchen«, erklärte İkmen entschlossen. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«
    »Wirklich? Bei all deinen Kindern und der ganzen Arbeit?«
    Sie wandte sich an Arto Sarkissian. »Ich finde nicht, dass er gesund genug aussieht, um sich weitere Aufgaben aufzuhalsen. Er ist so dünn geworden! Was meinst du, Krikor, mein Junge?«
    »Arto.«
    »Verzeihung?«
    »Ich bin Arto, Fräulein Yümniye. Krikor ist mein Bruder«, erklärte Arto behutsam.
    »Oh, das tut mir Leid«, sagte sie und blickte beschämt zu Boden. »Mein dummer Kopf.«
    »Ich glaube, wenn Çetin sagt, dass er Sie besuchen will, werden Sie ihn kaum davon abhalten können«, meinte Arto lächelnd.
    »Und selbstverständlich kommen wir beide zu Fräulein Muazzez’ Beerdigung«, fügte İkmen hinzu. »Sie brauchen sicher auch Hilfe bei den Vorbereitungen, oder?«
    Dankbar bejahte Yümniye die Frage. Sie besprachen alles Notwendige, und dann verabschiedeten die alte Frau und Arto sich. Während ihres Besuchs hatte İkmen trotz seiner Müdigkeit eine einigermaßen fröhliche Miene aufgesetzt, doch nun überließ er sich rasch wieder seinen düsteren Gedanken. Immer wieder kam ihm das Wort »Opfer« in den Sinn. So viele Leben waren geopfert worden – und wofür? Damit diejenigen, über deren Identität man nicht einmal nachzudenken wagte, ein wenig ruhiger schlafen konnten? Damit dieser kranke, verderbte und korrupte Zustand der Welt für alle Ewigkeit erhalten blieb? Er und all die anderen wurden bloß benutzt. Halt den Mund, setz dich hin, tu deine Pflicht, stirb. Wo blieb da die Selbstbestimmung, die Freiheit? Neun Kinder hatte er in diese Welt gesetzt, neun Menschen, die man manipulieren und hin und her bewegen
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