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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht
Autoren: Barbara Nadel
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PROLOG
    Blut hatte bisher nie zum Arrangement gehört. Doch jetzt war es plötzlich so weit. Natürlich hatten sich die Dinge in letzter Zeit … verschlechtert. Aber er hatte die Augen davor verschlossen. Er schaute hinab in die Tiefen seines riesigen halbmondförmigen Pools und dachte: Ich muss mich darum kümmern. Ich kann es nicht länger Vedat überlassen. Dann sagte er laut: »Ich muss sofort nach Hause.«
    Schließlich ging es nicht nur um ihn, oder? Auch andere waren in die Sache verwickelt – Menschen, die gesellschaftlich weit über ihm standen und die darauf vertrauten, dass er die Angelegenheit in die Hand nahm. Menschen, die selbst jetzt noch nicht die ganze Wahrheit kannten …
    »Also, es sind deine Leute«, hatte G. gesagt. »Du kennst sie. Unternimm etwas, oder wir werden etwas unternehmen.«
    Diese Worte hatten ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen – das und das angsterfüllte Flüstern, das er heute Morgen rund um den Pool gehört hatte. Das Flüstern von Männern, die einmal seine Freunde gewesen waren, Männern, die nun sagten, sie würden ihn im Regen stehen lassen, wenn es Ärger gebe.
    Mit einer Entschlossenheit, die allein seiner Angst entsprang, öffnete er die Tür zum Poolhaus und ging hinein. Eine junge, blonde Frau lag auf einem riesigen Ledersofa und schaute sich eine alte Folge der Cosby Show an.
    »Wir müssen heute Abend noch packen«, rief er ihr zu. »Ich fliege nach Hause.«
    Die Frau drehte sich um und starrte ihn an, verblüfft über seine plötzliche Eröffnung.
    »Aber wir sind zu Hause«, sagte sie. »Das hier ist …«
    »Ich meine mein Zuhause«, unterbrach der Mann sie grob. »Türkiye.«
1
    Ç etin İkmen trank den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf den Frühstückstisch. Die Hitze in Istanbul machte ihn schon am Morgen reizbar, und daher war ein mürrischer Teenager das Letzte, was er im Augenblick brauchen konnte. Er schaute auf und sah seine hübsche Tochter an, die ihm gegenübersaß.
    »Also, Hülya«, sagte er, »wenn du nicht länger in der Pastahane arbeiten willst, was hast du denn dann vor?«
    »Ich möchte in die Unterhaltungsbranche einsteigen«, erwiderte sie.
    Müde rieb İkmen sich die Wangen. »Und in welchen Bereich?«, fragte er.
    Bevor sie antwortete, schaute Hülya kurz zu ihrem Bruder hinüber, der neben ihr saß. Erst als sie sich überzeugt hatte, dass er in sein Buch vertieft war, sagte sie: »Ich will Schauspielerin werden.«
    Doch Hülya hatte sich geirrt. Bülent warf sein Buch auf den Boden und fing schallend an zu lachen.
    »Mit dir habe ich nicht geredet!«, fuhr Hülya ihn verärgert an. »Ich habe mich mit Papa unterhalten!«
    »Kinder …«
    »Du weißt, dass du als Schauspielerin Talent brauchst, oder?«, neckte Bülent sie, ohne die Warnung seines Vaters zu beachten. »Und du musst dann mit jedem schlafen …«
    »Bülent!«
    »Wieso? Ich sag doch bloß, was ich denke.« Der zornige Gesichtsausdruck seines Vaters ließ Bülent unbeeindruckt.
    »Und außerdem: Seit wann bist du in solchen Dingen prüde, Papa?«
    »Das bin ich nicht!«, brauste İkmen auf und fügte, an seine Tochter gewandt, hinzu: »Aber deine Mutter …«
    »Also darf ich noch nicht einmal darüber nachdenken, nur weil Mama dagegen wäre?«
    »Nein!«
    »Aber genau das hast du gesagt, Papa.«
    »Richtig«, stimmte ihr Bruder zu. »Das ist genau das, was du andeutest.«
    »Du hältst dich da raus!« Mittlerweile wirklich aufgebracht, deutete İkmen mit seiner Zigarette warnend in Richtung seines Sohnes. »Bei Allah, diese Wohnung kommt mir vor wie ein Kriegsgebiet seit eure Mutter fort ist! Von Teenagern eingekesselt! Kein Wunder, dass ein Mann hier nicht in Ruhe und Frieden leben kann!« Er zündete sich eine neue Zigarette an; wie sein Sohn aus Erfahrung wusste, musste es mindestens die fünfte des Tages sein.
    Bülent erhob sich. »Na ja, ich gehe jetzt jedenfalls zur Arbeit.« Dann lächelte er seine Schwester an und fügte hinzu: »Schließlich kann nicht jeder von uns seine Zeit damit vertrödeln, von einem Leben als Star zu träumen.«
    »Das tue ich doch gar nicht.«
    »Der Name dieser Familie lautet İkmen, Hülya.« Er klopfte ihr gönnerhaft auf die Schulter. »Unser Vater ist Polizist, und das bedeutet, dass es in unserem Leben weder Ruhm noch Geld gibt. Gewöhn dich besser gleich dran.« Dann verließ er mit einem breiten Grinsen den Raum.
    Seine Schwester wollte wütend aufspringen und ihm nachlaufen, wurde jedoch von ihrem genauso
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