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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht
Autoren: Barbara Nadel
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beruhigen.
    »Wir haben eine der großen Familien des organisierten Verbrechens zerschlagen«, sagte İkmen. »Die bösen Buben sind verschwunden. Wir haben unsere Sache gut gemacht.«
    »Ja.«
    »Du hast einen kleinen Sohn, und das Leben ist schön.«
    »Ja.« Doch als Süleyman İkmen ansah, standen Tränen in seinen Augen. »Auf der Suche nach der Wahrheit habe ich mich immer an dir orientiert, Çetin.«
    İkmen wandte das Gesicht ab. »Dann ist dir in Zukunft vielleicht besser damit gedient, wenn du dich an dir selbst orientierst«, sagte er.
    »Vielleicht hast du Recht.«
    Er hatte diese Antwort förmlich herausgefordert, dennoch verletzte sie İkmen tief. Wütend starrte er Süleyman an.
    »Gerade du solltest verstehen, dass Herrscher gewisse Dinge geheim halten«, sagte er bitter. »Und viele andere Menschen einspannen, damit sie ihnen dabei helfen.«
    »Ach, jetzt wirfst du mir also meine Herkunft vor, um dein Gewissen zu beruhigen!«
    »Ihr wart es doch, die die Paläste gebaut, die Mauern errichtet und die Geheimgänge tief in die Erde gegraben haben!«
    Süleyman sprang wütend auf.
    »Jeder, der sich über andere erhebt, ist mit einem Makel behaftet«, sagte İkmen und blickte in die funkelnden Augen seines Kollegen. »Sie schieben Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett hin und her. Sie bestimmen unser Handeln, sie versiegeln unsere Lippen und entreißen uns noch unser Innerstes! Sie rauben uns unsere Ehre!« Unwillkürlich schossen ihm Tränen in die Augen. »Ich kann und werde dir nichts sagen!«
    »Ich verstehe nicht, warum du mir so wenig vertraust, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben!«
    »Und ich verstehe nicht«, sagte İkmen traurig, »warum du nicht begreifst, dass ich das nicht tue, weil ich dir nicht vertraue. Ich tue es, weil ich dich viel zu sehr mag, um ein Geheimnis mit dir zu teilen, das dich in Gefahr bringen und dir deine Ehre rauben würde.« Mit einer groben Handbewegung wischte er sich die Tränen aus den Augen. »Ist es nicht schlimm genug, dass mir der Gestank anhaftet?«
    Süleyman seufzte tief und ließ sich wieder neben İkmen nieder. Dann bot er seinem ehemaligen Chef eine Zigarette an und nahm sich selbst auch eine.
    »Und was bedeutet all das für Jack the Ripper?«, fragte Süleyman leise. »Für die Qual, die es bedeutet, die Wahrheit nicht zu kennen?«
    Ein kleiner Schwarm Möwen stürzte sich kreischend auf die Überreste von Metin İskenders Fischbrötchen.
    İkmen lächelte. »Etwas an diesem Fall erinnert mich fatal an Jack the Ripper«, sagte er nachdenklich.
    »Ach?«
    »Ja. Eine der Theorien über diesen ungelösten Kriminalfall geht von der Beteiligung des damaligen britischen Establishments aus. Angeblich hat einer der englischen Prinzen eine Prostituierte geschwängert, und Jack war ein Agent der Regierung, der die Angelegenheit bereinigen sollte.«
    »Aber Jack the Ripper hat doch mehrere Frauen ermordet.«
    »Ja, aber nur eine von ihnen war die königliche Dirne – so heißt es jedenfalls«, erklärte İkmen. »Die anderen wurden ermordet, um die Legende des Serienmörders zu erschaffen, die Wahrheit zu verzerren und die einfachen Leute zu mani pulieren.« Er sah Süleyman an. »Und wir werden nie die Wahrheit erfahren, weil dieser Theorie zufolge alle, die davon wussten, das gleiche Schicksal ereilte wie die Prostituierten.«
    »Die Sache mit Schiwkow ist also …«
    »… das Einzige, was du gefahrlos wissen darfst. Die Welt bleibt, wie sie ist«, sagte İkmen und starrte auf das matte Pflaster vor seinen Füßen. »Als Prinz wüsstest du alles. Aber du bist kein Prinz mehr, Mehmet, deshalb ist dir der Zutritt zu den geheimen unterirdischen Kammern verboten. Ich dagegen habe in das Antlitz von etwas geblickt, das ich nicht hätte sehen dürfen, und ich wünschte, ich hätte es nicht gesehen. Für mich hat sich die Welt verändert.«
    Eine ganze Weile saßen sie schweigend da. Während um sie herum die allmorgendliche Hektik ausbrach, Menschen auf die Fähren drängten, Sesamringverkäufer und Händler den Vorbeieilenden ihre schmackhaften, nützlichen oder nutzlosen Waren feilboten, hatten sie das unwirkliche Gefühl, an einem Ort der Stille zu verharren, an einem Haltepunkt. Nicht, dass die Menschen ihnen ausgewichen wären – sie schienen sie gar nicht zu bemerken.
    İkmen erkannte durchaus einen Sinn in dieser Isolation, die in gewisser Weise die neue Kluft verkörperte, die er zwischen sich und den anderen spürte. Doch Süleyman fand die
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