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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht
Autoren: Barbara Nadel
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zornigen, aber deutlich resignierteren Vater daran gehindert.
    »Nun lass ihn in Ruhe!«, sagte İkmen. Dann ließ er ihre Hand los und sackte wieder auf seinen Stuhl. »Du und dein Bruder, ihr seid wie zwei Katzen, die sich um eine Maus streiten. Jeden Tag das Gleiche: streiten, streiten, streiten! Es ist mir ein Rätsel, wie es eurer Mutter gelingt, euch im Zaum zu halten. Ich schaffe es jedenfalls nicht. Seit ewigen Zeiten arbei te ich als Polizeibeamter in der härtesten Stadt der Türkei, aber ich bin nicht in der Lage, meine eigenen Kinder unter Kontrolle zu halten!«
    »Papa …«
    »Wenn, Inschallah, eure Mutter von ihrem Besuch bei Onkel Talaat zurückkehrt, werde ich meinen lebenslangen Grundsätzen als Atheist zuwiderhandeln und dem Allmächtigen und Barmherzigen auf Knien danken.« Mit einem Seitenblick auf seine sichtlich schockierte Tochter fuhr er fort: »Ja, so ernst ist es, Hülya! Seit zwei Wochen habt ihr beiden nichts Besseres zu tun, als euch andauernd zu beklagen, zu streiten und mit eurem schlechten Benehmen gegenseitig zu übertreffen. Onkel Talaat ist schwer krank, und wir sollten deiner Mutter zuliebe dafür sorgen, dass hier alles in Ordnung ist, wenn sie anruft. Sie sorgt schließlich nicht nur für deinen Onkel, sondern auch noch für deine kleinen Geschwister, außerdem ist es in Antalya so heiß wie in einem Backofen – und trotzdem muss ich jedes Mal, wenn sie anruft, euer Gezänk im Hintergrund übertönen!«
    Hülya senkte ihre großen, dunklen Augen. »Papa …«
    »Wenn deine älteren Geschwister nicht so beschäftigt wären, würde ich euch zu ihnen schicken. Aber getrennt .« Wütend zog er an seiner Zigarette, bevor er sie ausdrückte und die nächste ansteckte.
    »Ich hätte nichts dagegen, zu Çiçek zu ziehen«, sagte Hülya. Ihre ältere Schwester wohnte in einer Wohngemeinschaft draußen am Atatürk-Flughafen.
    »Tatsächlich?«, erwiderte ihr Vater spöttisch. »Du hättest nichts dagegen?«
    »Nein.«
    İkmen verschränkte seine dünnen Arme vor der Brust und schaute an seiner großen Nase vorbei auf das eingeschüchterte Mädchen vor ihm. »Ausgerechnet du, die du nicht einmal pünktlich zur Arbeit kommst, wenn du nur fünfzig Meter davon entfernt wohnst? Du willst einen Weg von fünfundvierzig Minuten oder mehr in Kauf nehmen?«
    »Ich habe es dir doch gesagt, ich möchte nicht mehr in der Pastahane arbeiten, ich …«
    »Oh ja, natürlich, du willst ja Schauspielerin werden!«
    İkmen beugte sich vor und lächelte sie freudlos an. »Tut mir Leid, das hatte ich ganz vergessen.«
    »Papa!«
    İkmen erhob sich abrupt von seinem Stuhl und verließ die Küche.
    »Ich gehe jetzt zur Arbeit«, meinte er. »Ich habe schließlich keine andere Wahl.«
    Hülya, die sich trotz ihrer Sehnsüchte und Proteste den Realitäten des Lebens nicht verschließen konnte, stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken.
    İkmen stand mit grauem Gesicht in der Diele und nahm seine Jacke von einem Haken an der Wand, als es an der Tür klingelte. Er seufzte resigniert, weil er wusste, dass niemand aufmachen würde, wenn er es nicht tat, und öffnete die Tür. Eine kleine Frau in der marineblauen Uniform der Zabita – der Marktpolizei – stand vor ihm.
    İkmen begrüßte sie mit einem Lächeln. Hürrem İpek lebte seit fast zehn Jahren in der Wohnung gegenüber. Sie war eine schwer arbeitende Witwe mit zwei jugendlichen Töchtern, und ihr abgehärmtes Gesicht strafte ihr wahres Alter von achtunddreißig Jahren Lügen.
    »Oh, Inspektor İkmen«, sagte sie, »entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte nur fragen, ob Sie oder vor allem Hülya meine Hatice heute Morgen schon gesehen haben?«
    Die ältere der beiden İpek-Töchter, Hatice, war ein Jahr älter als Hülya und arbeitete in derselben Pastahane in Sultanahmet. Die beiden Mädchen waren seit der Schulzeit eng miteinander befreundet.
    »Nein, ich habe sie nicht gesehen.« Er bat Hürrem İpek in die Wohnung. »Aber ich nehme an, dass meine Tochter sie gestern Abend bei der Arbeit gesehen hat. Vielleicht ist sie einkaufen gegangen.«
    »Ihr Bett ist unbenutzt, Inspektor«, sagte die Frau und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. »Ich bin gestern Abend früh zu Bett gegangen, weil ich so müde war. Hatice kommt normalerweise gegen halb elf nach Hause, aber da habe ich schon geschlafen.«
    »Was ist mit Ihrer anderen Tochter?«, erkundigte sich İkmen. »Hat sie ihre Schwester gestern Abend nicht nach Hause kommen
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