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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen
Autoren: Friedrich Ani
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Prolog
    B estimmt hatte sie einmal an Gott geglaubt. Aber wann? Vor dem Tod ihrer Mutter. Wirklich?
    Sie schaute sich um. Die beiden Männer starrten wieder zu ihr her, das machte ihr nichts aus. Kurz vor zehn Uhr nachts war sie die einzige Frau in dem Café; die Sprache der Glotzer, die sich laut, mit langen Pausen dazwischen, unterhielten, kannte sie nicht. Serbokroatisch vielleicht. Seit fast zwei Stunden saß sie hier und trank Wodka. Draußen regnete es; ihr Cape hatte sie nicht ausgezogen, weil sie bald wieder gehen wollte. Als der Kellner – oder der Wirt – ihr das erste Glas hinstellte, sagte er etwas über ihre Kleidung; sie hatte nicht hingehört und ihn angelächelt, zu lange vermutlich, denn er meinte, das Rot ihres Mantels passe perfekt zu ihren Haaren; da hörte sie sofort zu lächeln auf, nickte und sah aus dem Fenster und kehrte zu ihrer Furcht zurück.
    Daß man den Augenblick, wenn man wahrhaftig glaubt, vergessen kann! dachte sie.
    Früher hatte sie regelmäßig den Gottesdienst besucht, ja; sie betete, ja; sie ging zur Beichte und empfing den Leib Christi, ja; und wenn ihr Vater schimpfte, sie würde vor lauter katholischem Gehabe das Familiengeschäft vernachlässigen, ermahnte sie ihn zu mehr Respekt vor dem Herrn. Ja.
    Und doch: War ihr Verhalten wahrhaftig gewesen?
    Nein. Nein.
    In den letzten Monaten in ihrer Zelle und auf ihrer Flucht und während des kurzen Zusammenseins mit dem Mann, der die meiste Zeit unter seinem Bett verbrachte, hatte sie begriffen: Niemals in den neun Jahren vor dem Tod ihrer Mutter und niemals in den zwanzig Jahren danach und niemals in den vier Jahren als Schwester Irmengard war sie mit vollkommener, reiner Überzeugung auf die Knie gesunken und hatte ihre Zweifel abgeworfen.
    »Noch einen Wodka!« sagte sie zur Theke hin. Die beiden Männer an der Wand unterbrachen ihr Gespräch. Sie drehte den Kopf zu ihnen, und innerhalb einer Sekunde verwandelte sich der Blick des einen Mannes in das verachtende Schauen ihres Vaters. Vor Schreck stieß sie das leere kleine Glas um. Anstatt es wieder hinzustellen, faltete sie die Hände und drückte die Fingerkuppen auf die Haut, bis die Verkrampfung ihr weh tat und der Kellner das neue, bis zum Rand gefüllte Glas brachte.
    »Danke«, sagte sie.
    Die Hände im Schoß aneinandergepreßt, wartete sie darauf, daß er ging.
    Wäre der Mann, der unter seinem Bett hauste, in diesem Moment draußen vorbeigegangen, hätte sie an die Scheibe geklopft und ihn hereingewinkt.
    »Ich möchte bezahlen«, sagte sie.
    »Wir machen erst um drei zu.«
    »So spät«, sagte sie.
    Ihre Fingernägel gruben sich in die Haut; sie schloß die Augen und hielt die Luft an. Kaum hatte der Kellner sich abgewandt, trank sie das Glas in einem Zug aus.
    Manchmal, als Mädchen, hatte sie über die Flamme einer Kerze gestrichen, dann die Hand an ihre Wange gehalten und dem Schmerz nachgespürt, der, wie sie glaubte, von Gott gesandt sei. Daß Gott existierte, stand ja fest. Sie war doch nicht verrückt geworden!
    Jetzt bemerkte sie die Stille im Café.
    Die Männer schwiegen, die Musik hatte aufgehört. Sie schaute auf die Straße, durch die graue Gardine. Unter Regenschirmen hasteten Leute vorüber; das blaue Licht einer Nachtbar fiel auf den glänzenden schwarzen Bürgersteig.
    Je länger sie hinsah, desto schwindliger wurde ihr; oder sie spürte den Wodka; drei Gläser hatte sie getrunken, oder vier? Mit dem Mann unter dem Bett hatte sie mehr getrunken, jede Nacht, im Zimmer des Ost-West-Hotels, wo er sich eingemietet hatte, um zu verrotten. Deswegen hatte sie zugeschlagen: weil er sie anekelte.
    »Noch einen, bitte!«
    Der Kellner saß hinter dem Tresen und las Zeitung. Wie mein Vater, dachte sie. Als er mit dem Getränk kam, fragte sie ihn, ob er der Wirt sei.
    »Nein, der Bruder des Wirts. Warten Sie auf jemand?«
    »Ja.«
    »Auf Ihren Freund?«
    »Ja.«
    »Möchten Sie essen?«
    »Nein.«
    »Frischer Eintopf, hausgemacht, kann ich empfehlen.«
    »Gut.«
    »Ein Erfrischungsgetränk dazu?«
    »Nein.«
    »Ich geb Ihnen ein Bier aus.«
    Beim Essen überlegte sie, warum sie dreiunddreißig Jahre alt werden mußte, um zu begreifen, daß sie nie an Gott geglaubt hatte. Sie hatte ihn immer nur angebetet. Eine Zeitlang hatte sie ihn angehimmelt. Das war vielleicht normal, wenn man beschlossen hatte, ins Kloster zu gehen. Nein, das ist nicht normal, dachte sie und trank das kalte Bier.
    Aber irgendwann mußte es doch möglich gewesen sein zu
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