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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume
Autoren: Paola Calvetti
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finden in meinen Gedanken an dich
    Und meinen müden Schatten
    In die Freiheit entlassen.
    Dann schließlich wird ewiger Frühling sein.
    Manch einer würde von der Synchronizität der Ereignisse sprechen, andere vielleicht eher von einem verrückten Zufall. Auch Diego, der mit Enrico in der Konditorei zwei Stunden lang Erinnerungen ausgetauscht hatte, war zum Friedhof gegangen, um mit seinen Toten zu sprechen. Es war der rechte Ort gewesen, um den Vormittag zu beschließen, mit all dem Schnee, so sanft wie Milchschaum, und dem Geruch nach Weihnachten überall. Es ist kein spezifischer Geruch, von dem man noch weiß, wie er im letzten Jahr war oder im vorletzten, sondern eine Art innerer Geruch, den jeder Mensch auf seine eigene Weise atmet und beschreibt.
    Sein erstes Weihnachten als Waise.
    Wenn die Dame mit den Päckchen ihn fragen würde, einfach so, um in diesem eiskalten U-Bahn-Waggon ein Gespräch anzufangen: »Woran ist Ihre Mutter denn gestorben?«, dann würde er antworten, dass sie aus Scham gestorben sei. »Oh, es war kein plötzlicher und auch kein unerwarteter Tod. Sie hat Jahre dafür gebraucht, aber vielleicht wissen Sie ja nicht, Signora, dass sich die Partikel der Scham ganz allmählich nur einnisten, dass sie Tröpfchen für Tröpfchen durch die Poren dringen und wie geruchloses Gift in die Nase steigen.« Man kann auch mehr als einmal sterben, und seine Mutter hatte an einem kalten Dezembertag wie diesem damit angefangen, ohne sich verpflichtet zu fühlen, die Familie darüber zu unterrichten.
    Ein Unglück verblasst mit den Jahren, und wenn einer zu erzählen beginnt, kann der andere immer etwas beisteuern, ohne dass man je eine Rangordnung des Leidens erstellen könnte. Mit der Zeit verzichtet man ganz darauf, und jeder kultiviert seinen eigenen Schmerz.
    Der Vater kam immer später nach Hause. Er hatte seine Arbeit, und das war’s. Nachdem er die Kanzlei aufgelöst hatte, wollte er seine Frau dazu überreden, ins sonnige Florida zu fliehen, was ihm gefallen hätte, weil er als junger Mann von Hemingway und einem Fenster mit Blick auf den Sonnenuntergang von Key West geträumt hatte. Sie hatte sich auf einen vernünftigen Kommentar beschränkt: Ihre Haut vertrage das tropische Klima nicht, und ihre Tage seien gezählt.
    Den Großteil ihrer Zeit verbrachte sie im Bett und wurde still und beharrlich eingesogen wie Staub. Sie hätte ihre Familie mit einer originelleren Tat überraschen können, hätte sich vielleicht in Notenpapier einwickeln und wie ein Fisch in Folie in den Hof entschweben können, aber das tat sie nicht.
    Diego verbrachte Ostern und Weihnachten mit ihnen und besuchte sie ansonsten einmal in der Woche. Meistens Sonntagnachmittag. Im Winter brachte er Kuchen mit und in den warmen Monaten Eis. Sie kochte zu jeder Jahreszeit Tee, den sie dann im Wohnzimmer tranken, hinter angelehnten Fensterläden. Seine Mutter lebte im Halbschatten und ertrug den Anblick des Himmels nicht. Die Fenster putzte die alte Pförtnerin, die so sehr an der Signora hing.
    Jeder zog sich in einen Winkel zurück, in die das Wohnzimmer wie ein zerschnittenes Quadrat zerfiel. Diego hatte Angst zu hören, dass irgendetwas nicht stimmte, daher wurde die selige Qual ihrer Begegnungen, sobald er alles über sich berichtet hatte, nur selten von Fragen durchbrochen. Und es waren immer dieselben.
    Â»Alles in Ordnung, ja.«
    Â»Wie ist es, mit Kollegen zusammenzuwohnen?«
    Â»Sag nicht Kollegen, Mama, wir sind Freunde.«
    Â»Hast du mittlerweile kochen gelernt? Warum bringst du nicht deine Hemden zum Bügeln mit? Du weißt doch, dass ich das gern für dich mache, und du hast immer Falten in den Ärmeln.«
    Manchmal sagte sie: »Ich hab doch nichts Schlimmes getan.«
    Â»Natürlich nicht, Mama, wir haben nichts Schlimmes getan.«
    Zu ihm war sie immer sehr nett, aber Diego hatte Probleme, sich der Qual in diesen Augen zu entziehen. Er hätte gerne die Furchen in diesem Gesicht gestreichelt und mit einem Stift den Staub herausgekratzt. Vielleicht hätte er seine Mutter umarmen und sich in ihren Schoß kuscheln oder ihr wenigstens die Hand reichen sollen. Die Gesten der Liebe muss man aber aus der Kindheit herüberretten, denn wenn man erst einmal größer ist als der eigene Vater, findet man nicht mehr zu ihnen zurück, und so blieb er steif auf seinem Sofa sitzen. Diego wollte an
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