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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume
Autoren: Paola Calvetti
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die Möglichkeit von etwas Außergewöhnlichem glauben, aber Veränderungen vollziehen sich schrittweise, und man muss Tag für Tag auf sie achten. Während er also an seinem Tee nippte oder sein Eis aß, zwang er sich förmlich dazu, irgendetwas zu spüren, egal was , das an Liebe erinnerte oder auch nur an Dankbarkeit.
    Im Leben lassen sich viele Probleme irgendwann beheben, aber seine Mutter blockte selbst die unbedeutendsten Veränderungen ab und achtete penibel darauf, dass alles blieb, wie es war. Selbst der Sofabezug, die schweren Vorhänge und die Resopalmöbel in der Küche waren so gut erhalten, dass die Gefahr einer Erneuerung – andere Farben, anderes Material, irgendetwas anderes – gebannt schien.
    Jeder Gegenstand hatte eine unzerstörbare Patina. Das Haus trug Trauer, und so musste man sich auch verhalten.
    Wie sehr hätte er sich gewünscht, seine Eltern streiten zu hören.
    Einspruch, Euer Ehren, es ist sinnlos, sich mit jemandem zu streiten, der nicht reagiert.
    Der Vater hatte sie all die Jahre geliebt. Dieser Mann, der nicht einmal bei Plädoyers die Stimme erhob, starb in der Silvesternacht, vor elf Monaten und einundzwanzig Tagen. Sanft, wie es seine Art war, glitt er in den Schlaf.
    Zurück blieb die Wohnung, Diegos Erbe.
    Der beschloss, nicht dort herumzuwühlen. Die Makler hatten bereits Kaufinteressenten, und die Männer von der Entrümplungskooperative waren echte Muskelpakete, die Wohnungen wie Legosteine auseinandernahmen. Er hatte nur sagen müssen, dass er ihnen alles schenkt, wenn sie sich alleine um die Entsorgung kümmern, schon waren die Sachen in Pappkartons verschwunden. Personalausweise, Fotoalben, Telefon- und Adressverzeichnisse, Brillen und Sonnenbrillen, Bleistifte, Röntgenaufnahmen, Füllfederhalter, Hefte, Reiseführer für Reisen, die nie angetreten wurden, Quittungen, Steuerunterlagen, Briefe, Flakons, Pantoffeln, Knöpfe, Super-8-Filme, zwei Paar gesplitterte Ski, Teller, Töpfe, Gläser. Hunderte von Gegenständen landeten in den Mülltonnen unten im Haus oder aber in Haushalten, wo niemand sie wiedererkennen würde. Die Schränke hatten freiwillige Helfer von der Gemeinde leergeräumt. Einen von ihnen hatte er sagen hören – leise, aber nicht leise genug –, dass Papas Beerdigung den Schlussstein unter eine allzu lange Leidenszeit setze. Prompt bot er ihnen an, alles zu behalten, was sie gerne zur »Erinnerung« hätten. Die fünf Männer von der Entrümplungskooperative hielten, was das Faltblatt versprach, und hatten in wenigen Stunden alles Brauchbare und auch das, was niemand mehr brauchen würde, entsorgt.
    Am Abend des zweiten Tags war alles erledigt.
    Er hatte nur darum gebeten, dass man die verschlossene Tür am Ende des Flurs nicht aufbrechen möge.
    Diego schritt langsam durch den abgestandenen Tabakgeruch der Wohnung. Einen Moment lang glaubte er, Schritte hinter sich zu hören, als stünde jemand im Schatten der Tür und beobachte ihn. Sein Herz schlug heftig, als er sich umdrehte.
    Da war niemand.
    Jahrelang hatte er sich gedrückt vor der Autopsie dieses Zimmers, das ihm am Herzen lag, weil Kinder Erinnerungen bekanntlich aufbauschen. Dabei gibt es nichts Trügerischeres als die Klänge der Kindheit, wenn sie schon so lange zurückliegt. Vielleicht sollte man gewisse Türen gar nicht erst öffnen, manche nicht einmal einen Spalt breit, aber Diego konnte es kaum erwarten. Er war heiter und kam sich fast töricht vor, als er merkte, dass er nur die Klinke herunterdrücken musste, um die Tür aufzumachen. Der Moment war gekommen, um Meter für Meter, Winkel für Winkel, Nagel für Nagel von diesem Raum Besitz zu ergreifen.
    Er war kleiner, als er es in Erinnerung hatte, kaum größer als eine Abstellkammer, in die man sämtliche Sachen packt, von denen man nicht weiß, wohin damit. Die Intimität des Halbschlafs lag über Andreas Zimmer. Und etwas Bekenntnishaftes, frei von jeglichem Zorn. Auf dem Boden lag ein Lampenschirm, an den Wänden sah man die hellen Stellen, wo die Poster und die Bilder gehangen hatten. Vom Bett war nur das Skelett geblieben, und die Matratze strahlte nichts mehr von der alten Wärme aus. Diego setzte sich darauf, dann streckte er sich aus. Die Bettwäsche und die Überdecke lagen gewaschen, gebügelt und zusammengefaltet auf einem Stuhl. Im Schrank hingen wie zwei
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