Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
in sich gekehrt und häufig feindselig
beschrieben hatte. Er stand an einem Durchgang und lächelte zögernd. Mich
überraschte seine starke Ähnlichkeit mit unserem Vater, nach dem er benannt
worden war.
    Ich war nicht so sicher, ob sich die
anderen über mein Auftauchen freuten. Zwei Männer und eine Frau standen als
kleine geschlossene Gruppe hinter Patsy, die Arme verschränkt, die Gesichter
ausdruckslos. Einen Augenblick schienen sie in dieser Pose erstarren zu wollen,
doch dann hatte Patsy es geschafft, mir die Jacke auszuziehen, Jessamyn packte
meine Tasche, und die Gruppe löste sich auf und kam auf mich zu.
    Patsy begann, die einzelnen
vorzustellen. »Das ist Neal Oliver.« Neal war klein, mit einem Bauch, und trug
Kordhosen und ein Holzfällerhemd. Er hatte ein rundes Gesicht, strähniges
graues Haar, und als er mir die Hand schüttelte und lächelte, entdeckte ich,
daß er schlechte, ungeputzte Zähne hatte.
    »Und Angela Won, unsere
Geschäftsführerin.« Für eine Chinesin war Angela groß, über einssiebzig,, wie
ich, und noch dünner als Patsy. Mit ihren schwarzen Jeans und dem schwarzen
Rollkragenpullover schien sie ihre Schlankheit noch betonen zu wollen. Auch das
auf dem Kopf aufgetürmte Haar erhöhte den Eindruck von Größe noch. Sie nickte
und lächelte mir zu, doch ihre Augen blickten wachsam.
    »Und dies«, sagte Patsy und ergriff die
Hand des anderen Mannes, »ist Evans Newhouse.«
    Ich betrachtete die neue Liebe meiner
Schwester aufmerksam. Evans war über einsachtzig groß, und als Patsy ihn
vorwärtszog, bewegte er sich mit der trägen Geschmeidigkeit des Athleten. Sein
Haar war dicht und dunkelbraun, mit nur einer geringen Spur von Grau, und fiel
in Wellen bis zu seinem Kragen. Seiner Kleidung nach zu urteilen, hatte er sich
noch nie Gedanken gemacht, was modisch war und was nicht. Er trug ein grün-blau
gestreiftes Rugbyhemd, bei dem die eine Schulternaht aufgeplatzt war. In den
Knien seiner Jeans waren Löcher. Die Tennisschuhe an seinen Füßen waren
ausgefranst und hatten geknotete Schnürsenkel. Seine regelmäßigen Gesichtszüge
konnte man fast als hübsch bezeichnen. Er sah ganz und gar nicht wie der
Inbegriff der Vollkommenheit aus, als den Patsy ihn mir beschrieben hatte. Er
wirkte nicht so, als könne er auf irgend jemanden einen schlechten Einfluß
ausüben, wie ich mir das eingebildet hatte. Meine Reaktion auf ihn war positiv,
es blieb nur ein kleines vages Gefühl des Unbehagens, das aber auch auf die
seltsame Situation, in der ich mich befand, zurückzuführen sein konnte.
    Patsy scheuchte uns alle durch den
Torbogen, unter dem Andrew stand, in ein riesiges Wohnzimmer, auf dessen
Parkettboden der gleiche blaue chinesische Teppich lag wie in der
Eingangshalle. Weiße Brokatgardinen hingen an den Fenstern. An der Innenwand
befand sich ein Kamin mit einem mit Putten geschmückten Sims. Daneben war eine
geschlossene, mit feinen Schnitzereien bedeckte Holztür.
    Kelley zog mich auf ein blaßblaues
Samtsofa vor dem Kamin, und während sich die beiden Mädchen rechts und links
von mir niederließen, warf ich Andrew einen Blick zu, der uns spöttisch
grinsend betrachtet hatte und sich nun in die hinterste Ecke des Raums auf eine
Bank mit dünnen Füßen zurückzog. Patsy schüttelte den Kopf und murmelte: »Was
soll eine Mutter da tun?« Die Erwachsenen verteilten sich auf die verschiedenen
Sitzmöglichkeiten vor dem Kamin.
    Ein bedrückendes Schweigen entstand.
Nicht einmal das Rauschen des Regens war mehr zu vernehmen. Er hatte vor einer
halben Stunde aufgehört.
    Schließlich hüstelte Neal Oliver nervös
und sagte: »Nun, Sharon, wir freuen uns natürlich sehr, daß Sie gekommen sind.«
Patsy und Evans tauschten Blicke und lächelten mir dann zu, als wollten sie
sagen, daß ich mich jetzt auf eine Rede gefaßt machen müßte. »Wir hoffen, daß
Sie sich während Ihres Aufenthaltes hier wohl fühlen werden«, fuhr Neal fort,
»trotz des herrschenden Chaos. Nicht alles ist vollkommen wie die
Empfangsräume, die... Patsy, hast du ihr ein hübsches Zimmer gegeben?«
    »Ja. Sie ist im Rosenzimmer
untergebracht.«
    »Sehr schön. Wenn Sie etwas brauchen,
sagen Sie es uns nur, denn wir wollen, daß Sie sich hier — «
    »Neal«, unterbrach ihn Patsy,
»vielleicht sollten wir jetzt was trinken. Sharon hat eine lange Fahrt in Regen
und Sturm hinter sich.«
    »Gut. Ich hole den Getränkewagen.« Neal
sprang auf. Sein wichtigtuerisches bemutterndes Gehabe würde mir sicherlich
bald auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher