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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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mein derzeitiger Freund Don Del Boccio hatte ihm nie gefallen,
zum Teil wegen seines Berufs — er war Discjockey — , zum Teil, weil er Hanks
Freund und Kollegen Greg Marcus ausgebootet hatte.
    Ich starrte ihn nur an, ohne ein Wort
zu sagen. Anne-Marie verdeckte die Augen mit der Hand.
    »Dachte ich’s mir doch«, sagte Hank.
»Ich wußte, daß er dich eines Tages langweilen würde. Greg erzählte mir, daß er
kürzlich mit dir gegessen hätte und — «
    »Hank«, unterbrach ihn Anne-Marie. »Ich
hätte gern ein Glas Wein, und im Kühlschrank ist keiner mehr. Könntest du wohl
welchen holen gehen?«
    »Warum warten wir nicht, bis wir diesen
Vertrag durchgesehen haben, und gehen dann runter in die ›Remedy Lounge‹.«
    »Diese schmierige Bar mag ich nicht.
Und ich möchte jetzt etwas trinken.«
    »Mein Gott, das bedeutet, daß ich zum
Supermarkt gehen und mich dort anstellen muß...«
    »Sehr gut.«
    »Oh.« Er hatte begriffen und warf mir
einen schuldbewußten Blick zu.
    Anne-Marie lächelte ihn an, und er
verschwand so würdevoll aus dem Büro, wie es einem verlegenen, lästigen Menschen,
der sich in alles einmischt, möglich war.
    »Er meint es nur gut«, sagte
Anne-Marie, nachdem Hank gegangen war.
    Ich seufzte nur und verkroch mich
ebenfalls in meinen Sessel. Ein paar Sekunden später meinte ich: »Na schön, er
meint es gut, das tut er immer. Er ist mein Freund. Seit dem College. Er
gab mir einen Job, nachdem man mich gefeuert hatte und kein Mensch mich auch
nur zu einem Einstellungsgespräch hätte kommen lassen. Er ist der Grund, warum
ich bei All Souls geblieben bin, all die Jahre. Vermutlich liebe ich ihn auf
meine Weise, aber...«
    »Ich liebe ihn auch.«
    Ich sah sie nur an.
    »Wir werden heiraten.«
    Das war wirklich eine Sensation. Einen
Augenblick verschlug es mir die Sprache. Hank und Anne-Marie kannten sich fast
so lange wie Hank und ich. Sie gehörte zu den Mitgründern der Kooperative. Sie
hatten immer gut zusammengearbeitet, Witze gemacht, gelacht. Aber Hank und
Anne-Marie als Liebende? Verheiratet? Es war unvorstellbar.
    »Wie lange geht das schon?« fragte ich.
    »Ein paar Wochen. Es fing an, als die
Retrospektive von Western im ›Castro‹ lief. Hank liebt Westernfilme, und keiner
wollte mit ihm hingehen, außer mir.«
    »Da mußt du ihn wirklich lieben.«
Anne-Marie und ich hatten eine gemeinsame Leidenschaft für spätabendliche
Horrorfilme und immer gefunden, daß Western unter unserer Würde seien.
Anne-Marie nickte. »Bist du auch sicher, nach so kurzer Zeit?« fragte ich.
    »So sicher wie nötig.«
    »Guter Gott!« Einen Augenblick
schwiegen wir beide. Dann erkannte ich, daß meine Worte unfreundlich geklungen
haben mußten, und ich fügte hinzu: »Ich freue mich für dich, wirklich.«
    »Ich weiß, es ist ein Schock. Ich
wollte es dir auch nicht so plötzlich erzählen, damit es dich nicht umwirft,
aber...«
    Wir lachten, die Art von
verständnisvollem gutem Lachen, das nur zwischen langjährigen engen Freunden
möglich ist.

4
     
    Als ich durch die Eingangstür zum
Herrenhaus auf Appleby Island trat, vergaß ich für einen Augenblick alles:
meine persönlichen Probleme, die streunende Katze, Anne-Marie und Hank und
sogar den Regensturm, durch den ich gefahren war: So beeindruckend war die
Empfangshalle. Und so wenig paßten die Leute hinein, die sich zu meiner
Begrüßung versammelt hatten. Vor mir schwang sich eine mit einem blauen Teppich
bedeckte Treppe in anmutigem Bogen in den ersten Stock. Ihr dunkles
Mahagonigeländer schimmerte im Licht des vergoldeten Kristallüsters an der
Decke.
    Unter der Treppe führte eine zweite in
das Stockwerk darunter. Die Wände waren mit blau-silberner Lilientapete
tapeziert, der Boden war aus weißem Marmor. Ein königsblauer chinesischer
Teppich bedeckte ihn fast ganz. Außer einem zerbrechlichen Tisch für das
Gästebuch gab es keine Möbel. Keine Bilder oder Nippes lenkten den Blick ab von
den eleganten Proportionen des Raumes und seiner Farbkomposition. Wenn dies ein
Beispiel für Patsys Geschmacksstil war, hatte sie ihre wahre Berufung gefunden.
    Natürlich hatte ich nur ein paar
Sekunden Zeit, um die ganze Pracht aufzunehmen. Kelley hüpfte um mich herum und
schrie, daß Tante Sharon endlich angekommen sei. Patsy versuchte, mir die Jacke
abzunehmen. Aber ich konnte sie nicht ausziehen, weil die fünfjährige Jessamyn
sich daran klammerte und mit strahlendem Gesicht zu mir aufsah. Auch Andrew war
da, Patsys elfjähriger Sohn, den sie als
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