Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
zu sagen, daß das Projekt auf wackligen Füßen steht, und schon kann er den Hahn
zudrehen.«
    »Hm. Es hatte ihn also jemand gewarnt?«
    »Ja. Es kam ein anonymer Brief.«
    »Klingt doch ganz, als wollte jemand
euer Projekt verhindern.«
    »Finde ich auch. Die andern meinen, es
seien nur Zufälle, aber ich... Warte mal.« Sie ging zum Stuhl bei der Tür und
nahm einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche, die sie dort abgelegt hatte,
und reichte ihn mir.
    Es war eine Plastikpuppe mit
pechschwarzem Haar und dunkler Gesichtshaut, vermutlich eine Indianerpuppe. Sie
trug ein paar gelbliche Stoffetzen, der Kopf war zur Seite geneigt, und um den
Hals lag eine säuberlich geknotete Schlinge. Die Augen waren in die Höhlen
gefallen, die Gliedmaßen standen in seltsamen Winkeln vom Körper ab. Mich
überlief eine Gänsehaut.
    »Woher hast du die?«
    »Jessamyn hat sie gefunden.« Jessamyn
war ihre fünfjährige Tochter. »Die Puppe hing an einem niedrigen Ast eines
Birnbaums.«
    Ich runzelte die Stirn und sah im
Geist, wie das blonde kleine Mädchen hochlangte und die widerwärtige Puppe
abnahm. »Die Puppe scheint dich sehr zu beunruhigen. Warum?«
    Patsy trank einen Schluck Wein, und
dabei entdeckte ich, daß sie ihre Fingernägel völlig abgeknabbert hatte. »Die
Geschichte der Insel geht noch weiter, als ich dir erzählt habe. Die Insel wird
umflossen vom Nordarm des Mokelume-Flusses und einem toten Wasserarm namens
Hermit’s Slough, denn es hat dort tatsächlich mal ein Eremit gelebt, um 1850
oder 1860. Er hieß Alf Zeisler, alle nannten ihn den verrückten Alf. Sein Name
klang zwar deutsch, aber er war ein Miwok-Indianer. Im Delta gab es eine Menge
Indianerstämme, aber die meisten Indianer kamen bei der Malariaepidemie 1830
um. Jedenfalls, der verrückte Alf überlebte, wohnte auf der Insel und zog
Kartoffeln und anderes Gemüse.« Sie machte eine Pause, um wieder einen Schluck
Wein zu trinken. »Als William Appleby auf die Insel kam, versuchte er, den
Indianer zu vertreiben. Aber Alf war clever. Er verschwand zwar, aber er trieb
sich auf der Insel herum, sabotierte Obstgärten und Farmgebäude und tat sein
möglichstes, um die Familie einzuschüchtern und zu vertreiben. Einmal, in den
späten sechziger Jahren, muß er etwas so Schlimmes getan haben, daß William
Appleby und seine Söhne ihn umbrachten, sie hingen ihn im Obstgarten auf, dort,
wo Jessamyn die Puppe fand.«
    »Mein Gott, was hatte Alf denn
gemacht?«
    »Keiner weiß etwas Genaues. Die
Applebys sprachen nie darüber. Gesetz und Ordnung waren damals im Delta noch
nicht so wie heute, und ganz bestimmt gab es niemanden, der einen armen
Indianer vertreten wollte, und so wurden die Applebys nie angeklagt.«
    Ich betrachtete die bösartige Puppe in
meiner Hand.
    Patsy sprach jetzt schneller. »Seit
damals soll die Insel verflucht sein. Durch indianische Geister, die sich
rächen wollen, oder so etwas Ähnliches. William Appleby ertrank unter
ungeklärten Umständen im Hermit’s Slough, 1880, kurz nachdem das Herrenhaus
fertig war. Andere Familienmitglieder kamen ebenfalls auf tragische Weise ums
Leben. Einzelheiten weiß ich nicht. Aber der letzte Appleby — Stuart — erschoß
sich in der Bibliothek, vor zwei Jahren. Neal erwarb die Insel aus dem
Nachlaß.«
    »Was hat demnach diese Puppe zu
bedeuten?«
    »Ich glaube, daß jemand, der weiß, daß
wir die Geschichte der Insel kennen, uns ängstigen will — wie der verrückte Alf
versuchte, die Applebys zu verschrecken. Jemand möchte, daß wir verschwinden.«
    »Und deshalb möchtest du mich anheuern?
Damit ich die Wahrheit herausfinde?«
    Patsy nickte. Die Angst in ihren Augen
ließ mich zu einem schnellen Entschluß kommen. Außerdem ist es bei den McCones
ein Prinzip, daß man sofort herbeigerannt kommt, wenn ein Familienmitglied um
Hilfe ruft.
    »Ich werde zum Abendessen dort sein«,
sagte ich.
     
     
     

3
     
    Patsy fuhr kurz nach zwei weg, ich
stellte das schmutzige Geschirr in den Ausguß, packte meine Wochenendtasche und
pfiff meiner Katze Watney. Wie gewöhnlich war das dicke, schwarz und weiß
gefleckte Geschöpf nirgends zu finden. Deshalb hinterließ ich an der Nachbartür
einen Zettel mit der Bitte, sie zu füttern, falls sie auftauchte. In die
Hintertür hatte ich schon vor längerer Zeit ein Loch machen lassen, durch das
sie ein und aus schlüpfen konnte.
    Dann warf ich die Tasche in den MG und
fuhr ins Büro, weil ich wissen wollte, ob etwas Wichtiges vorgefallen war, und
um mit meinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher