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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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selbst. Dunst stieg von ihm auf, den die frühe
Morgensonne rosiggolden färbte. Die Anlegestelle der Fähre konnte ich von
meinem Ausblick nicht erkennen, sie lag hinter immergrünem Gebüsch versteckt.
    Das Hämmern hatte aufgehört. Zwei
Gestalten tauchten auf dem Deich auf, ein Mann und eine Frau.
    Die Frau war groß und schlaksig und
trug weite olivfarbene Arbeitskleidung. Ihr Haar war mit einem roten Schal
verdeckt. Der Mann war noch größer und sehr schwer. Sicherlich wog er an die
dreihundert Pfund. Sein Haar und sein Bart waren karottenrot und lockig und
umstanden sein Gesicht wie das Fell, das meinen nackten Traumschafen gefehlt
hatte. Trotz des Bauchs, der über seinen Werkzeuggürtel hing, hielt er sich
sehr aufrecht.
    Die beiden schienen sich zu streiten,
oder vielmehr die Frau sprach heftig auf den Mann ein und gestikulierte dabei
mit den Händen. Als sie näher kamen, konnte ich am Klang ihrer Stimme erkennen,
daß es doch nur ein intensives Gespräch war. Sie gingen über den Rasen und
verschwanden rechts um das Haus. Dann hörte ich eine Tür zufallen.
    Dem Werkzeuggürtel nach zu schließen,
handelte es sich bei dem Mann um den Bauunternehmer Denny Kleinschmidt. Und da
sie aus der Richtung des künftigen Hafens gekommen waren, mußte die Frau
Stephanie Jorgenson sein, die für die Boote verantwortlich war. Wenn ich mich
beeilte, konnte ich die beiden noch erwischen, solange sie im Haus waren.
    Ich duschte mich rasch im frisch
renovierten Bad und zog Jeans, Tennisschuhe und ein langärmeliges Hemd an.
Nachdem ich die Hand zum Fenster hinausgestreckt hatte, um die Temperatur zu
prüfen, zog ich meinen hellgrünen Lieblingspullover an. Ich legte nur wenig
Make-up auf und band das Haar im Nacken zu einem Knoten zusammen. In ein paar
Minuten war ich fertig und ging die Treppe in die Halle hinab.
    Niemand war dort, auch das Wohnzimmer
war leer. Die geschnitzte Tür neben dem Kamin stach mir ins Auge. Ich ging hin
und probierte, ob sie sich öffnen ließ. Sie war abgeschlossen, was mich etwas
erstaunte.
    Dann fiel mir ein, daß Patsy erzählt hatte,
der letzte Appleby habe sich vor zwei Jahren in der Bibliothek erschossen.
Vielleicht führte die Tür in die Bibliothek. Ich mußte mich erkundigen. Doch
jetzt wollte ich das Paar kennenlernen, das ich vom Fenster aus beobachtet
hatte. Ich verließ das Wohnzimmer und ging durch das zugige Eßzimmer und die
Schwingtür in die Küche, ebenfalls ein Raum, der noch nicht renoviert worden
war. Der Boden war mit gesprenkeltem schwarzem Linoleum bedeckt, die Wände
schimmerten in einer Art Schulhausgrün, die Arbeitsflächen waren schmutziggelb
gefliest. Der Ausdruck auf den Gesichtern des Mannes und der Frau, die am
Metalltisch saßen und Kaffee tranken, paßte zur Umgebung.
    Es war das Paar, das ich draußen
gesehen hatte. Ihre Debatte war noch heftiger geworden. Als ich eintrat, hörte
ich den Mann sagen: »... gleichgültig, was du meinst. Es ist gefährlich, und
ich werde nicht — « Er brach ab, und beide wandten sich um und starrten mich
an.
    Die Gesichtshaut des Mannes war
gerötet, seine Augen beherrschten sein Gesicht: Sie waren himmelblau und rund
und wirkten seltsam unschuldig, obwohl der Mann Anfang Vierzig sein mußte. Die
Augen der Frau dagegen waren so dunkel, daß ich kaum die Iris von der Pupille
unterscheiden konnte. Mittellanges Haar lugte unter ihrem roten Schal hervor,
und ihre Gesichtszüge waren ebenso eckig wie ihre Figur. Ihre Haut sah wie
gegerbtes Leder aus, und tiefe Falten in den Augenwinkeln ließen sie etwas
verblüht aussehen, obwohl sie sicherlich nicht älter war als ihr Gegenüber.
    Die beiden starrten mich schweigend an,
bis ich mich vorstellte. Meine Vermutung bestätigte sich dann. Sie waren Denny
Kleinschmidt und Stephanie Jorgenson. Mein Erscheinen hatte die Spannung
zwischen ihnen gelöst, und so goß ich mir aus dem Kaffeetopf auf dem alten
Gasofen eine Tasse voll und setzte mich zu ihnen.
    »Tut mir leid, daß ich gestern zu Ihrem
Empfang nicht da war«, sagte Stephanie mit einer tiefen Stimme, die zu ihrer
Erscheinung paßte, »ich mußte nach Sacramento, um einen netten, alten Knaben zu
treffen, den ich kenne.« Sie lachte rauh, als sei dies ein kleiner Privatwitz,
und zündete sich eine Filterzigarette an.
    Ich musterte sie mit Interesse und
überlegte, ob sie wie ich indianisches Blut hatte. Der Name Jorgenson ließ
nicht darauf schließen, aber wenn man es recht bedachte, der meine auch nicht.
Ich war ein Achtel
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