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Ich träume deutsch

Ich träume deutsch

Titel: Ich träume deutsch
Autoren: Nilgün Tasman
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Vater hinterher und versuchten dabei, keinerlei Geräusche zu erzeugen. „Schuldig“, lautete das Urteil. Jeder Schritt von ihm war wie eine Verurteilung, und all die schönen Gefühle waren plötzlich weg.
    Mine nahm meine Hand und lächelte mir zu.
    „Hab keine Angst“, sagte sie. „Er macht sich groß, weil er so klein ist!“
    Ich nickte und lächelte zurück. Wir breiteten unsere Arme aus und flogen hinter unserem Vater her!

Gebrochene Flügel
    In unserer Familie habe ich eines nie verstanden: Je älter wir Kinder wurden, desto weniger Gespräche fanden bei uns statt. Als wir Kinder waren, hörte man uns noch zu. Es wurde gelacht oder auch getadelt, aber unsere Eltern hatten immer ein offenes Ohr für uns. Das war eines Tages schlagartig vorbei. Als ich Mine fragte, warum das eigentlich so sei, sagte sie: „Je älter wir Frauen werden, desto weniger sind wir wert.“ Mine starrte lange ins Leere, dann sah sie auf den Ring an ihrem Finger und lächelte: „Aber zum Glück gibt es auch andere Männer!“
    Diese Worte machten mir große Angst. Ich wusste, dass Mine einen Freund hatte, aber ich tat, als würde ich es nicht wissen, da ich gar nicht erst an die Folgen denken wollte. Also ignorierte ich ihre Anspielungen und ging in die Küche. Es war Fastenzeit und wir bereiteten gemeinsam das Abendessen vor. Unsere Eltern zwangen uns nicht zum Fasten, hätten es aber sicher gerne gesehen. Mine machte das ganze |164| Ritual mit, obwohl ich wusste, dass sie nicht fastete. Vielleicht war es für sie die einzige Möglichkeit, ein wenig Anerkennung zu bekommen. In der Tat genoss Mine in dieser Zeit eine besondere Stellung in unserer Familie. „Ich bin stolz auf dich!“, sagte Baba immer wieder und strich Mine zärtlich über die Haare.
    Da ich sehr schlank war, was bei uns als krankheitsanfällig und schwach galt, wollten meine Eltern nicht, dass ich fastete. Aber ich sollte wenigstens den Willen zeigen und nachts zum Essen und Beten aufstehen, was ich natürlich nicht tat. Als wir im Bett lagen, flüsterte Mine, dass sie ein Geheimnis habe und fragte, ob ich es wissen wolle.
    Ich schwieg und tat so, als ob ich bereits schlafen würde. Aber es sollte nicht lange ein Geheimnis bleiben. Mine hatte wieder mal den Unterricht geschwänzt und ihre Zeit auf dem Spielplatz vertrödelt, der mitten in der Stadt lag. Die kleine Holzhütte auf dem Spielplatz war das ideale Versteck für Jugendliche, die sich im Knutschen übten, wäre da nicht Onkel Sedat gewesen, der genau dort mit seinem Enkel auf dem Weg in den Kindergarten eine Pause eingelegt hatte.
    Als Onkel Sedat sah, wie Mine und ein „deutscher, blauäugiger Junge“ Händchen haltend aus der Holzhütte herauskamen, fiel er aus allen Wolken. Er eilte zu Mine, die vor Angst den Atem anhielt, und sagte ihr, dass sie sofort nach Hause gehen solle. Mine nickte und rannte davon. Onkel Sedat spuckte dem „blauäugigen Jungen“, wie er am Abend stolz unserem Vater erzählte, ins Gesicht und jagte ihn zum Teufel.
    „Diesen deutschen Männern sollte man Röcke anziehen! Die lassen sich alles gefallen, wie eine neue Braut“, sagte Sedat und schlug mit der Faust auf dem Tisch. Mein Vater sah beschämt auf den Boden und hörte Onkel Sedat zu. Meine |165| Mutter schlug verzweifelt immer wieder auf ihre Schenkel und weinte.
    Mine und ich standen im Schlafzimmer und versuchten, durch den Türspalt etwas von dem Gespräch mitzubekommen. Mine hielt meine Hand und die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Plötzlich hob mein Vater den Kopf und sah uns direkt in die Augen. Wir erschraken zu Tode und gingen einen Schritt zurück.
    Sedat Amca stand an der Tür, und bevor er sich von unseren Eltern verabschiedete, klopfte er auf die Schulter meines Vaters, senkte den Kopf und verließ endlich unsere Wohnung.
    „Arschloch, Arschloch!“, flüsterte Mine. Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich bekam fast keine Luft. Meine Knie zitterten vor Angst, und am liebsten wäre ich aus dem Fenster gesprungen. Mine verkroch sich unter ihrer Decke und wartete auf ihren „Henker“.
    Da drückte mein Vater auch schon die Tür auf, ich flog gegen die Wand und er fiel über Mine her. Er schlug auf sie ein, fluchte und zerrte sie an den Haaren durch das Zimmer.
    Meine Mutter versuchte, ihn davon abzuhalten, aber es war vergeblich. Ich stand an der Wand und hatte nicht die Kraft, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, lag Mine
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