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Ich träume deutsch

Ich träume deutsch

Titel: Ich träume deutsch
Autoren: Nilgün Tasman
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blutüberströmt und schluchzend auf dem Boden. Mein Vater schnappte sich seine Zigaretten und verließ das Haus.
    Anne holte weinend eine Schüssel mit Wasser und setzte sich zu Mine. „Niye yaptin, warum hast du das getan, mein Kind? Warum nur? Warum straft Allah uns so hart? Und das auch noch in so einem heiligen Monat.“
    Mine lächelte und wischte sich die blutende Nase an ihrem weißen Oberteil ab.
    |166| „Männer schlagen, weil sie mit Worten nicht umgehen können“, flüsterte sie.
    „Hüte deine Zunge!“, schrie meine Mutter und ging in die Küche.
    Anne gab die Schuld den „bösen Deutschen“ und unserer Regierung in der Türkei, die uns so unvorbereitet in diese fremde Kultur geschickt habe. Wir seien ein verlorenes Volk.
    In der Nacht kroch ich unter Mines Bettdecke und hoffte, dass sie nicht böse auf mich war. Schließlich hatte ich ihr nicht geholfen.
    Sie war aber gar nicht böse auf mich, im Gegenteil, wir umarmten uns ganz fest, und Mine sagte: „Hey, mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut.“
    Ich drückte mich noch fester an meine Schwester.
    „Denk an die Worte von Birsen Teyze und von Babaanne. Du musst Tinte lecken, gute Noten bringen, dann hast du mehr Freiheiten!“, flüsterte ich.
    Mine liefen die Tränen über das Gesicht: „Wie soll man denn mit gebrochenen Flügeln fliegen?“, fragte sie und lächelte.

Eine Eurasierin breitet ihre Flügel aus
    Babaanne wollte, dass wir Tinte lecken und Bücher lesen, um nicht unwissend zu bleiben. Außerdem war ich jetzt schon fünfzehn Jahre alt und wollte auch irgendwann fliegen lernen! Ich nutzte jede Gelegenheit, um in die Bibliothek zu gehen. Es gab so wunderschöne Bücher, die ich in ganz kurzer Zeit las, um an die nächsten heranzukommen. Zuerst |167| machte ich einen großen Bogen um die Religionsbücher, da mein Interesse daran immer mit einem schlechten Gewissen Allah gegenüber gekoppelt war.
    Aber dann war meine Neugierde doch größer als die Angst. In einer deutschen Bibliothek fand ich sogar den Koran und einige Übersetzungen davon. Ich las auch die Bibel, allerdings nur in der Bibliothek. Unsere Eltern hätten das sicher nicht gerne gesehen. Ich las Bücher über Religionen, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Ich konnte nicht immer alles verstehen, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Das Fundament aller Religionen war Liebe, Frieden, Rücksicht und Zufriedenheit. Birsen Teyze hatte recht gehabt. Auch in anderen Religionen gab es fesselnde und schöne Dinge, die jedem vorenthalten blieben, der sich nur auf eine konzentrierte und die anderen missachtete. Und in keinem „Gottesbuch“ war es ausdrücklich verboten, sich für andere Religionen zu interessieren.
    Religionen waren wie Perlenketten, und ich nahm mir von jeder die Perle, die ich am schönsten fand, und machte mir meine eigene Perlenkette daraus.
    Der Versuch, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, endete natürlich mit Drohungen und Geschrei. Ich solle Allah nicht beleidigen, sonst würde ich in der Hölle landen. Auch meine Schwester wollte nichts von meinen Erfahrungen wissen. Ich hatte mit einem Buntstift Suren in der Koranübersetzung unterstrichen, um sie meinen Eltern zu zeigen. Vor allem in dem Abschnitt, wo es um das Recht der Frauen ging. Als meine Mutter das sah, rastete sie regelrecht aus.
    „Wie kannst du es wagen, in den Koran zu kritzeln?“, schrie sie und riss mir das Buch aus der Hand. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass es sich nur um die Übersetzung handle, und ich ihr etwas zeigen wolle. Doch meine Mutter war der |168| Meinung, dass man den Koran nicht übersetzen könne, und dass jeder Versuch eine Sünde sei.
    Ich durfte nicht mehr über Gott und Religion sprechen. Ich hatte gefälligst das zu glauben, was man mir erzählt hatte.
    Aber meine Flügel hatte ich bereits ausgebreitet. Meinen Wissensdurst über Religion und Gott musste ich weiter heimlich stillen, da das, was mir erzählt worden war, nicht der Wahrheit entsprach. Es waren Gruselgeschichten, die meine Eltern von ihren Eltern und Großeltern erzählt bekommen hatten. Natürlich hatte das den Vorteil, dass man Gott und die Religion dazu benutzen konnte, andere „zur Strecke zu bringen“. So wurden Glaubenskriege geführt und Menschen manipuliert. Je mehr ich lesend forschte, desto mehr verwandelte sich meine Angst vor Gott in Liebe zu ihm, und je mehr ich über Religionen in Erfahrung brachte, desto stärker fühlte ich mich.
    Aber ich las nicht nur Bücher
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