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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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würden. Aber wenn sich nur annähernd bewahrheiten sollte, was sie vermuteten, so erwartete sie die Hölle.
    Es verging noch eine Weile, dann wurde geöffnet.

4
                        
                       Reumütig stand er da, in geduckter Haltung, den Kopf gesenkt, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Er hatte ein ungutes Gefühl, er fürchtete sich. Dann die Erleichterung, seine Mutter stand in der Tür. Von seinem Vater hätte er Senge bekommen – wie so viele Male zuvor schon.
    »Wo warst du denn so lange?«
    Er antwortete wie immer, kurz und bündig: »Och, bin so rumgelaufen.«
    »Komm rein, wasch’ dir die Hände, es gibt gleich Essen.«
    Der Junge wohnte in Hindenburg, einer knapp 200000 Einwohner zählenden Industriestadt in Oberschlesien. Es war gerade drei Wochen her, da hatte er seinen sechsten Geburtstag gefeiert, am 17. April 1939. Er hatte acht Geschwister, davon fünf Brüder, er war als sechstes Kind geboren worden. Sein Vater schuftete als Bergarbeiter von 4 bis 16 Uhr für den Unterhalt der Familie, seine Mutter versorgte den Haushalt. Die elfköpfige Familie teilte sich drei kleine Zimmer in einem typischen Bergarbeiterhaus. In der Doppelhaushälfte im Finkenweg 23 herrschte qualvolle Enge, die Familie lebte in äußerst dürftigen bis ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter nächtigte mit seinem jüngsten Bruder in der Wohnküche, der Vater mit den übrigen Söhnen im Zimmer hintenraus, die drei Mädchen im Schlafzimmer zur Straße hin.
    Das Geld war stets knapp, der Lohn des Vaters reichte gerade für die notwendigsten Anschaffungen. Die jüngeren Kinder hatten die Kleidung der Älteren aufzutragen, Spielzeug, Süßigkeiten oder andere Annehmlichkeiten blieben die Ausnahme. Die Eltern mussten ihre Kinder vernachlässigen. Notgedrungen. Dennoch entwickelten die sich altersentsprechend, sie zeigten auch in der Schule keine Auffälligkeiten – bis auf ihn.
    Im Sommer 1939 kam er in die Volksschule. Anfangs waren seine Leistungen »durchschnittlich«. Aber er ging nicht gerne zur Schule. Da waren Mädchen, die ihn wegen seiner »Segelohren« auslachten, und für viele Jungen war er einfach »nur doof«. Die anderen beachteten ihn nicht. Das schmerzte. Zu Hause blieb er stumm, konnte sich nicht mitteilen. Auch dort war er nicht mehr als ein geduldeter Mitläufer, ein Außenseiter, der Sündenbock, das Schlusslicht. Nur von seiner Mutter Hedwig durfte er Hilfe und Zuwendung erwarten. Doch die damals 38-Jährige hatte kaum Zeit für ihn; die Familie, der große Haushalt wollten versorgt werden.
    Dann rutschte er auch in der Schule ab, die Leistungen in »Schreiben«, »Rechnen« und »Lesen« waren »ungenügend«. Noch in der dritten Klasse wurde er in eine Sonderschule abgeschoben. Der schmächtige, kleinwüchsige Bursche konnte sich aber auch hier nicht behaupten, zwei Mal blieb er sitzen. Als ihm seine zwei Jahre ältere Schwester Elisabeth bei den Hausaufgaben zu helfen begann, ging es bergauf. Seine schulischen Leistungen besserten sich. Im Frühjahr 1943 wurde er nach bestandener Prüfung wieder in seiner ehemaligen Schule aufgenommen.
    Aber das Verhältnis zu seinen nun jüngeren Mitschülern war auch jetzt angestrengt. Er war der »Sitzenbleiber«, der »Hilfsschüler«, der »Depp«. Doch hatte er sich mittlerweile an seine Außenseiterrolle gewöhnt, sich hiermit arrangiert, damit abgefunden. Prügeleien ging er konsequent aus dem Weg. Nur ein einziges Mal wurde es ihm zu bunt: Er ohrfeigte ein Mädchen, zu dem er sich eigentlich hingezogen fühlte. Sie hatte ihn einen »Blödmann« geschimpft.
    Zu Hause ging es allerdings weniger glimpflich ab. Besonders seine älteren Brüder schoben ihn immer wieder vor, stempelten den »Kleinen« zum Übeltäter, wenn sie etwas ausgefressen hatten. Seinem Vater, allgemein geachtet und beliebt, kam dies durchaus gelegen. Er, unbeirrbarer und konsequenter Verfechter der Prügelstrafe als wirksames Erziehungsmittel, hielt seinen Sohn eh für einen »Taugenichts«, einen »Versager«. Und er war unnachgiebig – insbesondere dann, wenn er nachmittags von der Schicht kam und nur noch seine Ruhe haben wollte. »Strafe muss sein!« Da kannte »der Alte« keinen Pardon, dann setzte es reichlich Dresche: mit dem Rohrstock, mit dem Hosengürtel. In dieser Zeit versuchte der Junge seinem Peiniger aus dem Weg zu gehen, das Vater-Sohn-Verhältnis war geprägt von Unverständnis, Misstrauen, Aggressionen,
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