Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
Vom Netzwerk:
Bracht studierte die Reiseroute nach Mannheim, als seine Frau ihm von hinten auf die Schulter tippte. »Hänschen, schau doch mal nach Tanja. Sie ist noch unten am Planschbecken. Wir wollen doch nachher los, und ich muss mich noch um die Brote und so kümmern. Gehst du mal eben?« Hans Bracht nickte.
    Wenig später stieß er das Stahltor zum Innenhof auf. Es war ungewöhnlich still. Etwas bedrückt verschaffte er sich einen Überblick. Tanja war nicht zu sehen. Es war überhaupt niemand da. Eigenartig, dachte er sich. Hans Bracht rief nach seiner Tochter. Keine Antwort. Dann noch mal. Wieder nichts.
    Augenblicke später ließ ihn etwas stutzig werden; etwas Vertrautes, das er zu kennen glaubte. Er ging einige Schritte. Und er lag richtig: Es war das Kleidchen seiner Tochter, das unweit des Wasserbassins über dem Zaun hing, sorgfältig zusammengelegt. Tanja musste es ausgezogen haben, damit es nicht nass wurde; genauso wie ihre Schuhe. Hans Bracht griff nach dem Kleidungsstück. Er verharrte einen Moment, dachte nach. Das war schon komisch: Tanja war nicht besonders ordnungsliebend, das wusste er; aber ohne Kleid und Schuhe, halbnackt, seine Tochter wäre so nirgends hingegangen. Bestimmt nicht. Der 34-Jährige spürte, wie sich sein Magen langsam zu verkrampfen begann. Ein Gefühl bahnte sich seinen Weg, das er gut kannte, mit dem er sich aber nie hatte anfreunden wollen, und gegen das er sich nicht wirklich wehren konnte: ein Hauch von Angst.
    Quatsch! machte er sich Mut. Tanja ist bestimmt schon oben. Oder ist sie eventuell doch gestürzt? Hat Tomi sie vielleicht geschubst? Ist sie womöglich bewusstlos geworden, nachdem sie gefallen war? Liegt sie hinter einem der vielen Sträucher? Oder auf der Kellertreppe? Oder hatte sie einfach nur die Hitze nicht vertragen? Hans Bracht wusste, dass es diese und viele andere Möglichkeiten gab, die meisten davon erschienen auch ihm abwegig. Dennoch inspizierte er nochmals den Hinterhof, die Kellerräume, jede Ecke, jeden Winkel. Keine Spur von Tanja. Anschließend suchte er die Friesenstraße ab. Er traf einen Nachbarn: »Haben Sie die Tanja gesehen?«
    »Tut mir Leid, nein.«
    Er fragte auf dem Bürgersteig spielende Kinder: »Ihr kennt doch die Tanja, war sie hier?«
    Kopfschütteln.
    Der besorgte Vater wurde beobachtet – von demjenigen, der im Haus Friesenstraße 11 im zweiten Stock wohnte, vom Treppenaufgang gesehen rechts. Der Mann stand schräg hinter einer altmodischen, schmuddeligen Gardine. Er wollte sehen, aber nicht gesehen werden. Sein Oberhemd war schweißfeucht. Und er war nervös.
    Sie wird schon längst zu Hause sein! Hans Bracht machte sich erwartungsvoll auf den Heimweg. Seine Frau hatte ihn früher erwartet, eine knappe halbe Stunde war nun schon vergangen. »Und?« Hans Bracht drückte seiner Frau enttäuscht Kleid und Schuhe in die Hände. »Die Sachen hab’ ich unten auf der Bank gefunden. Ich hab’ alles nach ihr abgesucht, nichts. Keiner hat sie gesehen.« Er fluchte. Und dann wurde es für einen Moment still, für einen quälend langen Augenblick.
    »Hans, wir müssen etwas unternehmen!«
    »Jetzt beruhig’ dich, sie kommt schon noch oder wir finden sie.«
    Hans Bracht versuchte auch sich selbst in die Pflicht zu nehmen, kühlen Kopf zu bewahren: »Wir gehen noch mal los, wir beide. Die Kleine muss doch irgendwo sein. Tomi bleibt hier, falls Tanja doch noch auftaucht.«
    Anfangs war dieses Gefühl nur unangenehm gewesen, lästig, unbequem – denn Tanja hatte sich schon häufiger verspätet; allerdings nur für ein paar Minuten, höchstens eine Viertelstunde. Und sie war währenddessen nie unbeaufsichtigt geblieben. Jetzt war es irgendwie anders, das spürten ihre Eltern. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, keine Orientierung. Tanja hatte den Nahbereich der Wohnung verlassen. Daran zweifelten sie nicht mehr. Es schien keine Alternative zu geben. Ihre Tochter musste sich also an einem Ort aufhalten, den sie unter normalen Umständen nicht hätte aufsuchen dürfen. Allein die nicht zu leugnende Existenz der theoretischen Möglichkeit, dass diese nicht normalen Umstände sich tatsächlich ereignet haben könnten, beflügelte die Phantasie. Aber diese Vorstellungen, die sich wie eine böse Vorahnung anfühlten, wollten nicht konsequent zu Ende gedacht werden. Denn die Angst vor der »sich selbst erfüllenden Prophezeiung«, die erst durch ihre Formulierung wirksam und bedrohlich werden konnte, machte sprachlos.
    Die Suche musste fortgesetzt werden.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher