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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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bemächtigt. Aber es war noch zu früh. Das wusste er aus Erfahrung. Er musste sich beherrschen.
    Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk ausgiebig. Schließlich setzte er sich wieder an den Tisch. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, nahm den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er war nicht müde, und er dachte auch nicht nach, er ließ sich einfach von seinen monströsen Gedanken überwältigen, die jetzt von ihm Besitz ergriffen. Alles war leicht, alles war möglich.
    Mit einem Mal riss er die Augen auf. Seine Blicke wanderten hektisch zwischen der Puppe und den Kochtöpfen hin und her, die rechte Hand umklammerte nun fest den Knauf des Brotmessers. Er begann leicht zu schwitzen, sein Puls raste. Und dann wurde er wieder von diesem Gefühl überrannt, gegen das er sich nicht wehren konnte, das ihn antrieb. Sein ganzer Körper begann sich zu verkrampfen.

2
                        
                       »Hast Du schon mal gesehen, wie ein Mann seinen Mantel aufknöpft? Klar. Im Restaurant. Im Kino. Oder auf der Straße, wenn es warm ist. Das ist ja auch ganz normal. Macht aber ein Mann seinen Mantel auf, ohne daß jemand außer Dir dabei ist (zum Beispiel im Wald, in der U-Bahn oder im Treppenhaus), und Du siehst dann sein Geschlechtsteil, dann ist das nicht normal. Das hat schon etwas mit Sex zu tun. Mit bösem. Es gibt nämlich Männer, die eine Freude daran haben, Kindern ihr Geschlechtsteil zu zeigen. Diese Männer nennt man Sittenstrolche.«
    Die Idee war richtig, man wollte es erst gar nicht so weit kommen lassen, Kinder über drohende Gefahren rechtzeitig aufklären. Im Auftrag der Innenminister von Bund und Ländern glaubte eine Expertengruppe, den typischen Kinderschänder enttarnt zu haben. Seinen Steckbrief konnte jeder nachlesen, in einem kleinen gelben Heft, 32 Seiten im DIN-A5-Format, erhältlich für 1,50 Mark am Kiosk. Im Juni 1976 war die Aufklärungs-Schrift »im Kampf gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern« als Flaggschiff des »kriminalpolizeilichen Vorbeugungsprogramms« erstmals erschienen. Zur Begründung hieß es: »Bei uns werden jährlich fast 100 000 Kinder zwischen sieben und 14 Jahren sexuell mißbraucht. Seelisch geschädigt. Körperlich verletzt. Und manchmal ermordet.«
    Die Lebenshilfe war bestimmt für Kinder vom siebten Lebensjahr an, bündelte »kriminalistischen Sachverstand«, fußte auf »kinderpsychologischem Wissen« und enthielt wohlmeinende Faustregeln wie diese: »Wenn Du einem Sittenstrolch begegnest, nichts wie weg!« Und wie das »Böse« auszusehen hatte, war ebenfalls unzweifelhaft: Es musste ein »Mann mit Mantel« sein, natürlich. Der »Sittenstrolch« war stets ein Fremder, jemand, der wie eine Naturkatastrophe über seine Opfer hereinbrach. Besonders verdächtig erschien, wer »keine Frau hat«. Denn: »Der macht sich, wenn er böse ist, an Jungen und Mädchen heran.« So einfach war das.
    Dem »Triebtäter« war man auf die Schliche gekommen. Er hatte jetzt ein Gesicht, er zeigte ein bestimmtes Verhalten. Drohendes Unheil war nun erkennbar, durchschaubar, berechenbar. Nur den »lieben Onkel«, den »netten Nachbarn« hatte niemand auf der Rechnung; so wie jenen 43-jährigen Waschraumwärter, der zu dieser Zeit in einer Duisburger Mansardenwohnung lebte – unauffällig und unbeachtet.

3
                        
                       Es war kaum auszuhalten. Darbende Natur, schwitzende Menschen. Deutschland erlebte den heißesten Sommer seit dem Beginn meteorologischer Aufzeichnungen. Zweieinhalb Wochen mit örtlichen Tagestemperaturen von jeweils über 30 Grad – das hatte es bis dahin nicht gegeben. »79 Prozent der Bundesbürger«, so ermittelten die Wickert-Institute in einer Blitzumfrage, »finden die Hitzewelle unerträglich.« Und der Fernseh-Meteorologe Martin Teich unkte im ZDF: »Diese große Hochdruckzone wird uns noch einiges zu schaffen machen.«
    Tatsächlich ereignete sich allerorten Ungewöhnliches: Im Großraum Berlin fuhren winterliche Streukolonnen, um aufgematschten Asphalt mit Sand griffig zu halten. An der Saar schwärmten Inspektoren aus, um entlang den Flüssen zu verhindern, dass sich »die Bauern das immer knapper werdende Wasser gegenseitig abgraben«, berichtete ein Ministeriumssprecher. Züge fuhren mit Tempolimit, zwischen Köln und Koblenz lag es bei 50 km/h, weil durch Hitzeglut Gleisverformungen zu befürchten waren. Und auf
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