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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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den Autobahnen stauten sich kilometerweit Fahrzeugschlangen, die Betondecken waren bei Temperaturen von über 70 Grad aufgerissen. Auch in Duisburg, der gut 527000 Einwohner zählenden Industriemetropole im Ruhrgebiet, drohten die ungewöhnlichen Witterungsbedingungen Schaden anzurichten. So musste beispielsweise im Zoo eigens ein Zeltdach installiert werden, um die seltenen Weißwale vor Sonnenbrand zu schützen.
    Knapp acht Kilometer Luftlinie vom Tiergarten entfernt, im Arbeiterviertel Laar, hatte es ein kleines Mädchen viel besser als die meisten Erwachsenen, die unter der Bullenhitze ächzten. Es war der 2. Juli, ein Freitag. Das Thermometer zeigte 33,4 Grad. Tanja lachte, jauchzte und sprang immer wieder quietschvergnügt ins Wasser – denn in dem großen Innenhof der schmucklosen Häuserzeile an der Friesenstraße gab es für die vielen Kinder dieses Blocks neben einem Spielplatz auch ein Planschbecken.
    Die Viereinhalbjährige aus dem Haus Nummer 3 war nicht allein, ihr zwei Jahre älterer Bruder Thomas tobte mit seiner Schwester ausgelassen über die Rasenflächen des Hinterhofs, und dann hüpften beide immer wieder in die kleine Plastikbadewanne. Es war gegen 15 Uhr, als Jutta, ein Kind aus der Nachbarschaft, sich hinzugesellte. Die Achtjährige wohnte vier Häuser weiter, in Nummer 11. Die Kinder planschten, bespritzten sich mit Wasser, rangen miteinander, sie kicherten. Mitunter wurde es laut.
    Das Gejohle hatte einen Bewohner des Hauses Friesenstraße 11 aufmerksam werden lassen. Er argwöhnte, dass sich die Kinder wieder an seinem Mofa zu schaffen machen würden. Es war keine drei Wochen her, da waren die Ventile gelockert worden, beide Reifen waren platt gewesen. Er hatte die Kinder in Verdacht. Der Mann brauchte sein Mofa, um damit zur Arbeit zu kommen, und er brauchte es, um außerhalb von Duisburg herumfahren zu können – am liebsten in einsamen Gegenden, wo ihn niemand kannte. Er war häufig auf Tour, fast jeden Tag.
    Jetzt stand er auf dem Dachboden und lugte aus dem Hoffenster. Die Kinder bemerkten den kleinwüchsigen hageren Mann mit der ausgeprägten Stirnglatze nicht. Er schaute zu, wie sich Tanja, Jutta und Thomas amüsierten. Die Kinder waren nackt. Tanja gefiel dem Mann besonders gut: der schlanke Körper, die schulterlangen blonden Haare zu zwei Zöpfen gebunden, das herzerfrischende Lachen, die schelmischen Grübchen in den Wangen. Sein Körper versteifte sich beim Anblick des Mädchens, er begann heftig zu schwitzen, Schweißperlen bildeten sich auf der breiten Stirn. Der Mann hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er knöpfte sein weißes Hemd auf. Sein Blick wurde starr, irgendwie leer, er wirkte geistesabwesend. Die dunklen Augen fixierten nur noch Tanja. Er wollte ganz nah bei ihr sein. Schweißtropfen platschten auf den hölzernen Fenstersims, während der Mann sich dort abstützte. Er war jetzt in Gedanken, begann zu phantasieren.
    Ein Schrei riss ihn aus seinem Fiebertraum. Jutta war gestürzt, sie hatte sich das rechte Knie aufgeschlagen. Das Mädchen weinte, wenig später verschwand sie im etwa acht Meter langen tunnelartigen Durchgang, der vom Hinterhof zur Häuserfront führte. Sie brauchte ein Pflaster – und den Zuspruch ihrer Mutter.
    Der Mann dachte nach. Er glotzte immer noch unbemerkt durch das Fenster auf den Hof. Tanja und Thomas waren noch da. Um sich besser konzentrieren zu können, begann er über den Dachboden zu schlurfen – wie immer vornübergebeugt, das linke Bein etwas nachziehend. Dann wurde das Hoffenster geschlossen, und der Mann verschwand. Er hatte sich jetzt etwas vorgenommen, er hatte einen Plan.
    Gegen 15.45 Uhr kam Thomas nach Hause. Abgekämpft und müde. Wortlos und mit hängenden Schultern schlich er an seiner Mutter vorbei. Die hatte für die Kinder in der Küche kalten Zitronentee bereitgestellt. Hastig stürzte er ein Glas hinunter. Dann noch eins. Petra Bracht hatte auch ihre Tochter erwartet. Aber Tanja kam nicht. Sie hakte nach: »Tomi, wo ist denn die Tanja?«
    »Die kommt gleich.«
    Eine Viertelstunde verging. Thomas saß vor dem Fernseher, als seine Mutter nachfragte: »Wollte Tanja noch irgendwohin, hat sie was gesagt?«
    »Nee.«
    Petra Bracht wurde energisch: »Entweder du sagst jetzt, was los ist, oder ich mache die Flimmerkiste aus!«
    Keine Antwort.
    »Ich warte!«
    »Mami, ich weiß es nicht«, lenkte Thomas ein, »die hat nur gesagt, dass sie gleich hochkommt.«
    »War noch jemand bei ihr?«
    »Nee.«
    Hans
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