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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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Gewalt.
    Als einzige Bezugsperson akzeptierte er seine Mutter. »Anständig«, »fromm«, »fleißig«, so wurde sie überwiegend charakterisiert. Bei ihr suchte er Zuflucht, Geborgenheit, menschliche Wärme. Aber seine Mutter sah sich in erster Linie dem Wohl der gesamten Familie verpflichtet, da gab es »keine Extrawurst«. Und dieser vermeintliche Liebesentzug, diese fortwährende Vernachlässigung, diese als ungerecht empfundene Zurücksetzung machten ihm schwer zu schaffen. Das tat weh.
    Als Zehnjähriger wurde er zum »Jungvolk« eingezogen. Die »Pflichtdienststunden« waren ihm höchst unangenehm, er schwänzte den Unterricht so oft es ging. Das hatte Gründe: Auch bei den »Pimpfen« wurde der »Waschlappen« regelmäßig geschurigelt, weil er teilnahmslos dastand, kein Interesse zeigte, nicht mitmachen wollte, nichts zu sagen hatte. Dann wurde er angebrüllt: »Du hast ja keinen Mumm!« Oder er war einfach nur ein »verdammter Schlappschwanz«. Später musste er strafexerzieren.
    Überhaupt hatte er für die Ideologie der Nazis weder Verständnis noch Interesse. Schon in dieser frühen Phase seines Lebens wurde deutlich, dass er kaum Eigeninitiative entwickelte, für Ideen und Anregungen nicht empfänglich war. Er lebte für sich. Allein. Freundschaften mit Gleichaltrigen schloss er nicht. Nicht ein einziges Mal. Allerdings war da auch niemand, der sich mit diesem »Hohlkopf« und »Schwächling« hätte abgeben wollen. Er blieb lieber außen vor, um den sonst drohenden Streitigkeiten, Unannehmlichkeiten und Demütigungen aus dem Weg zu gehen. Er begehrte nicht auf – zu Hause nicht, in der Schule auch nicht. Der streng katholisch erzogene Junge tat alles, was von ihm verlangt wurde: widerspruchslos, lautlos, klaglos. Sein bester Spielkamerad blieb er selbst, Zerstreuung und seelische Entspannung fand er nur bei ausgedehnten Spaziergängen und Erkundungen in der Umgebung Hindenburgs.
    Im Verlauf des Krieges wurden seine beiden älteren Brüder zum Militär eingezogen. Seinem Vater blieb dies zunächst erspart, er war als Bergmann »unabkömmlich«. Als Ende 1944 der Einmarsch der Roten Armee unmittelbar bevorstand, verließen seine Mutter, er und die übrigen Geschwister Hindenburg. Der Vater musste bleiben, Beruf und Befehl verpflichteten ihn. Sie fanden Unterschlupf in der schlesischen Gemeinde Dittersdorf, auf dem Bauernhof der Großeltern. Aber auch hier blieb er, jetzt 12 Jahre alt, von einschneidenden Kriegserlebnissen nicht verschont: zusammengeschossene Flüchtlingstrecks, totes Vieh, Leichenteile, grausam verstümmelte Menschen. Und er musste mit ansehen, wie zwei junge Burschen förmlich zerfetzt wurden. Sie hatten nichtsahnend mit scharfen Handgranaten gespielt.
    Während der Zeit in Dittersdorf bekam er Typhus. Längere Zeit blieben die Beine gelähmt, sein Allgemeinzustand war streckenweise »bedrohlich«, die Eltern befürchteten das Schlimmste. Der behandelnde Arzt vermutete zudem eine Hirnhautentzündung. Erst nach knapp einem Jahr begann der Junge sich langsam zu erholen. Allerdings war er weitestgehend hilflos, wie ein Kleinkind – er musste jetzt mühsam lernen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen, zu laufen. Insbesondere sein Großvater half ihm dabei. Seine Mutter hingegen gab sich zugeknöpft, kümmerte sich nicht weiter um ihn. Die Unbeholfenheit ihres Sorgenkindes kommentierte sie nur lakonisch: »Der hat sie doch nicht mehr alle.«
    Nach Ende des Krieges kam Dittersdorf unter polnische Verwaltung. Mutter und Kinder mussten den Bauernhof verlassen, sie wurden in kargen Holz- und Steinbaracken untergebracht. Nur das Nötigste hatten sie mitnehmen dürfen. Der Vater war kurz vor Kriegsende doch noch eingezogen worden, später in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Mehr wusste man nicht. Mutter und Kinder waren nun mittellos, auf sich allein gestellt.
    Anfang 1947 wurden auch sie Teil des »Umsiedlungsplans«. Den Bürgern »deutscher Volkszugehörigkeit« war das Wohnrecht entzogen worden, die so genannten Repatrianten (polnische Umsiedler) sollten die »wiedergewonnenen Gebiete« bevölkern. Die Familie entschloss sich, die Heimat zu verlassen. Zunächst fand man Unterschlupf in einem Lager bei Helmstedt, gut 40 Kilometer von Braunschweig entfernt. Sechs Wochen später ging es weiter in die 800-Seelen-Gemeinde Oesdorf, in der Nähe von Brilon im Sauerland.
    Der jetzt 14-Jährige wurde, wie die anderen Familienmitglieder auch, auf einem Bauernhof untergebracht. Der
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