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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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Vorstellung, die Abhilfe versprach: Wenn es mit Mädchen nicht klappte, dann wollte er sich eben an Tieren schadlos halten. Seit geraumer Zeit hatte er als Stallbursche immer wieder Deckvorgänge beobachtet, insbesondere bei Kühen, Schweinen oder Hunden. Häufig musste er die Kühe des Bauern von der Weide holen, damit sie von den Stieren gedeckt werden konnten. Weil er das Vieh an den Hörnern zu packen und festzuhalten hatte, konnte er nicht alles sehen; aber er bekam so viel mit, um verstehen zu können, was dort prinzipiell passierte. Und dieses Wissen machte er sich zunutze. Er stellte sich auf einen Schemel, hob den Schwanz einer Kuh und drang ein. Dabei stellte er sich vor, das Rindvieh sei ein Mädchen. So kam er zum Höhepunkt. Er versuchte es auch bei Schweinen. Aber die liefen immer vor ihm weg oder entglitten seinen Händen. Die sodomitischen Akte halfen ihm, seine verkrüppelte Sexualität zu kaschieren, seine soziale Frigidität zu vergessen. Scham oder Reue empfand er dabei nicht. Unangenehm war ihm nur, dass seine Klamotten danach arg verdreckt waren.

5
                        
                       Eine unheilvolle, dramatische Wendung nahm die Entwicklung seiner Sexualität, als er mehrfach beobachten musste, wie Vieh und anderes Getier geschlachtet wurden. Er war jetzt sechzehneinhalb. Regelmäßig half er beim Entdärmen der Kadaver. Erst war es nur ein diffuses, aber angenehmes Gefühl, insbesondere wenn Schweine getötet und ausgenommen wurden. Später, es waren einige Monate vergangen, empfand er schon mehr. Das verzweifelte Zappeln der Tiere, das schrille Gequieke, der aussichtslose Todeskampf, das hervorquellende Blut, das Versterben, die letzten Zuckungen, all das erregte ihn – seelisch und körperlich. Er bekam Schweißausbrüche, Herzrasen und ein eigenartiges Kribbeln im Magen und auf der Brust, so, als wenn Ameisen über seinen Oberkörper krabbelten. Erst viele Jahre später sollte er diesem diffusen Erregungszustand einen Namen geben: das »komische Gefühl«.
    Die hiermit einhergehende sexuelle Stimulation war gewaltig, er konnte sie nicht zurückweisen, nicht kontrollieren. Das wollte er auch nicht. Es war eine abenteuerliche, faszinierende Erfahrung, der er sich nicht verschließen wollte. Die körperlichen Symptome verschwanden erst, wenn er unmittelbar nach den Schlachtungen masturbierte. Danach war er nicht nur körperlich befriedigt.
    Als er die Schlachtvorgänge vollständig sexualisiert hatte, begann er sich Dinge auszumalen, die seine Erregung immens steigerten. Aus Schweinen wurden Mädchen, die er gnadenlos niedermetzelte. Finalen Genuss verschaffte ihm die Horrorvision, den Körper der Opfer aufzuschneiden und sich an diesem Anblick zu ergötzen. In seiner bizarren Parallelwelt hatte er nun endgültig jedes Maß verloren. Die sozialen Gefühle des Alltags wurden ausgeblendet: kein Mitleid, keine Schuld, keine Scham. Er delirierte in einem psycho-sexuellen Ausnahmezustand. Und er war mächtig.

6
                        
                       In der Realität hingegen war er machtlos. Immer wieder drängte er seine Mutter: »Ich will nach Hause!“ Und jedes Mal wurde er abgewiesen: »Du weißt doch, das geht nicht.« Grund waren die angeblich beengten Wohnverhältnisse: zwei kleine Zimmerchen für neun Personen. Aber dass ein Bewohner mehr keinen wesentlichen Unterschied gemacht hätte, erkannte auch er. Doch er reagierte wie immer – und fügte sich in sein Schicksal.
    Wenige Monate später fand sein Vater einen Job im Bergbau und eine neue Wohnung. Im Sommer 1952 verzog die Familie ins Ruhrgebiet, in die knapp 100000 Einwohner zählende Industriestadt Bottrop – nur er musste weiterhin bei einem Bauern in Oesdorf schuften. Wieder wurde er ausgegrenzt, wieder wurde auf seinen Gefühlen achtlos herumgetrampelt. Wenn sein Leben eine Wand gewesen wäre, sie hätte tausend Risse gehabt.
    Drei Monate vor seinem 21. Geburtstag endlich eine gute Nachricht. Seine Mutter schrieb ihm: »Vater ist Dir nicht mehr gram. Komm, sobald Du kannst (…).« Anfang März 1953 kehrte er dem verhassten Oesdorf den Rücken. Seine stille Sehnsucht, Radio- und Fernsehmechaniker zu werden, flammte wieder auf. Einmal durfte er sogar vorsprechen, der Ladeninhaber war mit seinem Vater gut bekannt. Als er gefragt wurde, welchen Schulabschluss er vorweisen könne, lächelte er nur gequält. Er hatte immer noch keinen. Nach
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