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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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regelmäßig, fast jeden Tag saß er hinten rechts in einer dunklen Ecke. Dort fühlte er sich unbeobachtet und sicher.
    Er kam immer gegen halb sechs und bestellte ein Glas Apfelsaft. Bier mochte er nicht. Dann wartete er auf Rita. Wenn sie das Lokal betrat, klebten seine Augen an ihr, und er bekam feuchte Hände. Das, was er in der schummrigen Kaschemme erkennen konnte, gefiel ihm: die blond gefärbten Haare, schulterlang; die kräftigen, knallrot geschminkten Lippen; vor allem aber die üppige Figur, durch eine viel zu enge Bluse und eine noch engere Hose nur notdürftig verhüllt. Die pummelige junge Frau mit der schwarzen dickglasigen Hornbrille erregte ihn. Und er mochte sie – eine für ihn vollkommen neue Erfahrung. Das behielt er natürlich für sich.
    Woche um Woche verging. Er hockte auf seinem Stammplatz, natürlich allein, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die Hände arbeiteten in seinem Gesicht. Und immer wenn er sich sicher sein konnte, dass ein Blickkontakt ausgeschlossen war, glotzte er Rita an. Einmal passierte es doch: Er bekam seine Augen nicht von ihr los, und ihre Blicke trafen sich; für den Hauch eines Augenblicks. Ertappt! durchfuhr es ihn. Blitzartig begann er die Decke anzustarren, er hatte Mühe, seine Verlegenheit zu verbergen. Sein Herz raste. Nach einigen Minuten, die qualvoll langsam verstrichen, Entwarnung – Rita hatte nicht reagiert. Jedenfalls war sie nicht zu ihm gekommen und hatte ihm eine geschmiert. Genau das hatte er befürchtet.
    Zwei Tage später sprachen sie sogar miteinander. »Das macht 50 Pfennig.« Rita war zum Kassieren gekommen. Das war ungewöhnlich, das hatte sie noch nie getan. Mit zittrigen Händen fingerte er das Geld aus seiner Hosentasche. »Da«, mehr brachte er nicht heraus und zeigte auf das Geldstück. Vor lauter Aufregung vergaß er, ihr Trinkgeld zu geben. Sie blieb noch einen Moment neben ihm stehen, und er hatte das Gefühl, als wollte sie ihm etwas sagen. Aber sie schaute ihn nur an. Sekunden später verschwand sie hinter dem Schanktisch.
    Am nächsten Tag verließ er das Lokal nicht um halb zehn, wie sonst. Diesmal war alles anders. Er trank Bier, ein Glas nach dem anderen. Wie viele es werden würden, war ihm egal. Es mussten aber so viele sein, dass er es fertigbrachte. Er wollte Rita etwas fragen. Kurz vor dem Zapfenstreich kam sie endlich. »Wir machen gleich Feierabend. Acht Bier. Macht vier Mark.« Das Geld lag bereits abgezählt auf dem Tisch. Er schob es zu ihr hinüber. Auch an das Trinkgeld hatte er gedacht. 20 Pfennig.
    »Was gibt’s denn zu feiern?«
    Er musste einmal kräftig schlucken, bevor er antworten konnte. »Och, nichts Besonderes.«
    Zum ersten Mal lächelte sie ihn an. Er grinste verlegen zurück. Dann nahm er all seinen Mut zusammen: »Willst’ mal ins Kino? Äh, ich mein’, mit mir.«
    Sie lachte laut. »Klar, warum nicht. Ja.« Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.
    Rita wohnte noch bei den Eltern und teilte sich mit ihrer zwölfjährigen Schwester ein Zimmer. Sie hatte sich mächtig rausgeputzt, war mittags noch beim Friseur gewesen. Pünktlich um halb sieben schellte es. Dann stand er in der Tür. Der schwarze Anzug passte nicht ganz, die Hose war zu lang, die Ärmel zu kurz. Er hatte »das gute Stück« von seinem älteren Bruder Klaus geborgt, für 2 Mark. Die dunkelgraue Krawatte, auch von Klaus, hatte er sich von seinem Vater binden lassen. Das weiße Oberhemd war von ihm. Eine Viertelstunde hatte er vor dem Spiegel zugebracht, jetzt saß alles perfekt: Die dunkelbraunen Haare waren akkurat gescheitelt, streng nach hinten gekämmt, und sie glänzten matt.
    Im »Scala« wurde »Singin’ in the Rain« gezeigt, mit Gene Kelly und Debbie Reynolds in den Hauptrollen. Auf dem Weg dorthin sagte er so gut wie nichts. Rita aber plauderte munter drauflos, erzählte von den Querelen mit ihrer Schwester, vom tragischen Tod ihres Hundes »Charly« (er war überfahren worden), von ihrer verkorksten Schulzeit und von »Freddy«. Ihren ehemaligen Freund hatte sie jüngst abserviert. Rita war eine kontaktfreudige, resolute Frau, im Umgang mit Männern nicht unerfahren.
    Im Kino saß er stocksteif neben ihr und starrte auf die Leinwand. Gerne hätte er sich ihr genähert, aber er hatte keine rechte Vorstellung, was und wie und wann und wo es passieren sollte. Rita war da anders. Nach einer guten Stunde legte sie ihre Hand auf seine. Keine Reaktion. Sie machte noch einen Versuch. Wieder nichts. Dann küsste sie ihn
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