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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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    Juni 2009
    Die weißblonden Locken sind nass, nicht nur vom Blut.
    Es sieht aus, als hätte die Erde sich aufgetan, um sie zu verschlingen. Nur ihr Kopf und ihr Oberkörper sind zu sehen. Rings um ihren steifen Körper türmt sich feuchte Erde, als wäre sie eine einsame, zerbrechliche, langstielige Rose. Das Blut ist aus den langen aufgeplatzten Rissen über den Rücken geronnen, wie Tränen über eine dunkle Wange. Ihr nackter Rücken gleicht einem Gemälde.
    Mit unentschlossenen Schritten tritt er ins Zelt und sieht sich um. Kehr um, sagt er zu sich selbst. Das hier, das hat nichts mit dir zu tun. Kehr um! Geh wieder raus, geh nach Hause, und vergiss, was du gesehen hast. Aber es gelingt ihm nicht. Wie auch?
    »H … Hallo?«
    Nur der Wald antwortet ihm. Leise wispert der Wind in den Zweigen. Er macht einen weiteren Schritt in das Zelt hinein. Die Luft ist klamm, schnürt ihm den Hals zu. Und der Geruch erinnert ihn an etwas, aber an was?
    Das Zelt hat gestern noch nicht dort gestanden. Für jemanden wie ihn, der jeden Tag seinen Hund am Ekeberg ausführt, war der Anblick des großen weißen Zelts eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. Ein merkwürdiger Platz für ein Zelt. Er musste einfach einen Blick hereinwerfen.
    Hätte er es nur nicht getan.
    Eine Hand ist abgetrennt, sie hängt nicht mehr mit dem Arm zusammen, als hätte sie sich vom Handgelenk gelöst. Der Kopf liegt schlaff auf der Schulter. Sein Blick fällt wieder auf die hellen, fast weißen Locken mit den vom Blut verklebten Strähnen. Sie wirken fast wie eine Perücke.
    Er tritt neben die junge Frau, bleibt dann aber wie angewurzelt stehen und atmet hektisch ein und aus. Seine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen und machen sich bereit, den Morgenkaffee und die Banane wieder von sich zu geben, doch es gelingt ihm, diesen Reflex zu unterdrücken. Langsam weicht er zurück, kneift die Augen zu und öffnet sie wieder, um sie ein letztes Mal anzusehen.
    Eines ihrer Augen hängt aus der Höhle, und ihre Nase ist platt gehauen, fast in ihrem Schädel verschwunden. Die Kiefer sind uneben und übersät von dunkelroten Flecken und Streifen. Schwarzes, zähes Blut ist aus einer Platzwunde auf der Stirn über den Nasenrücken und die Augen gelaufen. Ein Zahn hängt an einer Faser aus getrocknetem Blut auf der Innenseite ihrer Unterlippe. Weitere Zähne liegen lose im Gras neben der Frau, die einmal ein Gesicht gehabt hat.
    Jetzt ist es zerschmettert.
    Das Letzte, was Thorbjørn Skagestad registriert, ehe er aus dem Zelt stolpert, ist der Nagellack an ihren Fingern. Er ist blutrot.
    Genau wie die schweren Steine neben ihr.
    Henning Juul weiß nicht, warum er dort sitzt. An genau diesem Platz. Die Bretter sind hart. Voller Splitter. Unbequem. Trotzdem setzt er sich immer auf genau diesen Platz. Bittersüßer Nachtschatten wächst zwischen den Brettern, die etwas geneigt am Vereinsheim von Dælenenga befestigt sind. Hummeln umschwirren die giftigen Beeren. Das Holz ist nass. Er spürt die Feuchtigkeit durch den Hosenboden, denkt, dass er sich umziehen muss, wenn er nach Hause kommt. Er weiß aber nicht, ob er das schaffen wird.
    Früher hat er sich immer dorthin gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen. Jetzt raucht er nicht mehr. Nicht aus Rücksicht auf seine Gesundheit oder aus Vernunft – seine Mutter hat eine Raucherlunge. Nein. Er würde liebend gerne rauchen. Weiße, dünne Freunde, die immer gut gelaunt sind, wenn sie einen besuchen, und nie lange bleiben. Aber es geht nicht, er schafft es nicht.
    Außer ihm sitzen noch ein paar andere Menschen dort, etwas entfernt. Eine Fußballmutter auf einer Wolldecke sieht zu ihm herüber, und er wendet rasch den Blick ab. Er ist es gewohnt, dass fast alle, die auch dort sind, ihn anstarren und dabei so tun, als täten sie es nicht. Dabei weiß er ganz genau, dass sie sich fragen, wer er ist, was mit ihm geschehen ist und warum er dort sitzt. Aber es spricht ihn nie jemand an. Das trauen sie sich nicht.
    Er macht ihnen keinen Vorwurf.
    Als die Sonne müde wird, steht er auf und geht. Er zieht ein Bein leicht nach. Die Ärzte sagen, er solle versuchen, so normal wie möglich zu gehen, aber es gelingt ihm nicht. Es tut zu weh. Wobei »weh« vielleicht nicht das richtige Wort ist.
    Er weiß, was Schmerzen sind.
    Er schlendert durch den Birkelunden-Park, vorbei an dem frisch renovierten und neu gedeckten Pavillon. Eine Möwe schreit. Wie immer wimmelt es hier im Park vor Möwen. Er hasst die Viecher, aber er
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