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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Autoren: Stephan Harbort
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Tagesablauf war monoton: um 5 Uhr aufstehen, Kühe melken, dann zur Schule; nachmittags das Vieh zusammentreiben, der Bäuerin im Stall helfen, den Hof fegen. Danach hatte er ein wenig Zeit für sich, meistens besuchte er seine Mutter. Als der Bauer aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, wurde der Junge nicht mehr gebraucht, er musste den Hof verlassen. Er hatte sich insgesamt so unauffällig, so unscheinbar geführt, dass niemand nach ihm fragte, ihn niemand vermisste. Der Bäuerin war lediglich aufgefallen, dass das Bett des Jungen jeden Morgen klamm war und stark roch. Der »Schleicher« – so nannten sie ihn, weil er äußerst schweigsam war und sich nahezu lautlos an jemanden heranpirschen konnte – nässte immer noch ein. Er konnte sich das nicht erklären, und er konnte auch nichts dagegen tun. Er ließ es einfach passieren.
    Obwohl er in »Deutsch«, »Rechnen« und »Religion« mit »ausreichend«, in »Leibesübungen« gar mit »befriedigend« benotet worden war, musste er nach der vierten Volksschulklasse entlassen werden. »Zu alt«, hieß es. Wieder stand er vor einem Scherbenhaufen. Das war im Herbst 1948.
    Nun begann eine Odyssee als Hilfsarbeiter über verschiedene sauerländische Bauernhöfe. Der junge Mann, der so gerne Elektriker gelernt hätte, musste Schweineställe ausmisten oder Bäume schlagen – für ein Dach über dem Kopf, ein paar Mahlzeiten und 50 Mark Lohn. Das Geld musste er bei seinen Eltern abliefern, die ihn dafür einkleideten. Unterdessen waren sein Vater und seine beiden älteren Bruder wohlbehalten aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Darüber nachdenken mochte er aber auch nicht. Es war ihm einfach egal.
    Die eintönige Maloche auf dem Bauernhof war ihm zuwider. Er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Als er zufällig in einem Gespräch mitbekam, dass der älteste Sohn des Bauern auf die Landwirtschaftsschule gehen sollte, wurde er hellhörig. Plötzlich hatte er wieder eine Perspektive, er sah eine Möglichkeit, der nervtötenden Monotonie zu entfliehen, endlich etwas tun zu dürfen, das ihn interessierte, anspornte.
    Und es klappte, die Schule nahm ihn. Aber schon nach drei Monaten ereilte ihn das nächste Fiasko. »Aufgrund der bisherigen Leistungen muß davon ausgegangen werden, dass Ihr Sohn den Lernstoff nicht wird bewältigen können (…)«, hieß es in einem Brief an seine Eltern. Er wurde geschasst.
    Es blieben ihm die Bauernhöfe von Oesdorf und Umgebung. Aber er hatte einfach keine rechte Lust zu malochen – der Dreck, der Gestank, das Gemaule des Bauern, der karge Lohn. Obwohl er sich für nichts zu schade war, fand er kaum Anerkennung. Allerdings bemühte er sich auch nicht sonderlich. Immer wieder gab es Ärger, auch beim Melken. Weil er schummelte. Er schaffte fast immer nur die Hälfte, und dann schüttete er Wasser in die Milch, damit der Eimer voll war. Irgendwann wurde es dem Bauern zu viel: »Du hast se doch wohl nicht mehr alle!« Als sein Knecht wutentbrannt den Eimer umtrat, gab es kein Halten mehr. Der Bauer schnappte sich den nächstbesten Holzknüppel und prügelte den Jungen vom Hof.
    Obwohl die Empfindungen für seine Familie zwiespältig waren, sehnte er sich nach ihr. Er wollte heim. Die ständige Trennung, der anstrengende, schwierige Umgang mit fremden Menschen, das fortwährende Hin-und-her-geschubst-Werden machten ihm schwer zu schaffen. Er war nur ein Spielball. Jeder durfte über ihn verfügen. Und es gab weder eine Belohnung noch Dank. Er hatte zu funktionieren – wehe ihm, wenn nicht! Verzweifelt sehnte er sich nach Mitgefühl und ein wenig Anerkennung. Doch sein ständiger Wegbegleiter blieb die Entbehrung. Er besaß keine Individualität, er hatte kein Profil, keine Ausstrahlung. Er war einfach nur ein x-beliebiger Stallbursche, ein komischer Kauz, für den sich niemand interessierte. Weil er nicht sprach, weil er nichts zu sagen hatte. Weil er sich nicht traute, weil er sich nichts zutraute. Mehr und mehr verfestigte sich bei ihm der Gedanke, er sei ein Niemand, eine Null, ein Nichts. Der junge Mann wusste auch, warum: Er war hässlich, zu klein, zu dumm, hatte nichts Vernünftiges gelernt, war komisch angezogen, konnte nicht so flüssig reden wie die anderen, wurde gemieden, nicht für voll genommen. Das waren Argumente genug.
    Aber das war noch nicht alles. Da regte sich jetzt etwas, da nahm etwas Gestalt an, das hatte es so in den Jahren zuvor nicht
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