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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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Unternehmen ihre Stellengesuche.
    Man wird älter, und viele Dinge erledigen sich von selbst. Das Leben erlöst einen ganz von allein von dem Terror der Möglichkeiten. Nach und nach schwinden die Optionen. Das macht zwar traurig, aber die Erleichterung darüber, dass einem nicht mehr alle Türen offenstehen, ist doch größer. In einer Gesellschaft, in der schon 50-Jährige keinen neuen Job mehr finden, braucht man sich ab einem bestimmten Alter nicht mehr mit Karriereambitionen unter Druck zu setzen. Man kann endlich einfach das tun, wozu man Lust hat. Ohne schlechtes Gewissen, das heißt, ohne das Gefühl, etwas zu verpassen.
    Man wundert sich vielleicht sogar, während man nach einer durchgefeierten Nacht auf einer Bank im Stadtpark sitzt und den Joggern zuschaut, die vor der Arbeit ihre Runden drehen, wie viel Zeit man in seiner Jugend verschwendet hat, um sich und anderen zu beweisen, dass man sich doch noch überwinden kann – was naturgemäß niemals geklappt hat. Hätte man nur früher entdeckt, dass das Leben um ein Vielfaches amüsanter ist, wenn man seine Ambitionen fahren lässt und nichts und niemanden besonders ernst nimmt! Aber selbst das wirft man sich nicht vor auf seiner Bank, das wäre pure Zeitverschwendung. Man nimmt die Irrtümer seiner Jugend einfach amüsiert zur Kenntnis.
    Das ist jedenfalls die Erfahrung meines Vaters. Wie viele Anläufe habe er unternommen, um seiner Familie zu zeigen, dass er doch kein hoffnungsloser Fall sei, gestand er mir vor zwei Jahren, als wir abends am Strand von Tel Aviv saßen. Reich wollte er in Deutschland werden und dann nach Israel heimkehren und seinen Triumph auskosten. Aber statt Geld zu scheffeln, habe er nur immer welches verloren: mit dem Pizzastand auf dem Oktoberfest, wo dann die Standgebühren die Einnahmen um ein Vielfaches übertrafen. Das Café in einem Münchner Theater, mit dem er pleite ging, weil die Schauspieler und ihre Freunde bei ihm stets umsonst getrunken und gegessen haben. Die Bar in Ingolstadt, der Lampenladen in Berlin. Die steinernen Möpse, die er in langen Nachtschichten gegossen hat und auf Flohmärkten verkaufen wollte und die sich nun zu Dutzenden in seinem Keller stapeln. »Wenn man nüchtern rechnet«, so mein Vater, »dann wäre es günstiger für alle Beteiligten gewesen, wenn ich nie gearbeitet hätte.«
    Doch die meisten Menschen sind nicht so klarsichtig wie mein Vater, für sie hört der Stress nie auf. Ein Leben lang kämpfen sie verzweifelt gegen ihre Schwächen, ohne dass sich etwas Wesentliches an ihnen ändert. Sie verpassen den Moment, sich den Tatsachen zu stellen. Bis zu ihrem letzten Atemzug glauben sie daran, dass sie das Ruder noch herumreißen werden, und sie denken gar nicht daran, ihr Selbstverbesserungsprojekt so kurz vorm Ziel fallen zu lassen.
    Noch viel schwieriger, als mit den eigenen Ansprüchen klarzukommen, ist es, die Ansprüche der anderen abzuwehren. Die anderen sind meist noch hartnäckiger als das eigene Über-Ich, und sie haben immer die besseren Argumente auf ihrer Seite. So waren sich alle sechs Geschwister meines Vaters stets einig, dass man so, wie mein Vater lebt, nicht leben könne. Sie, die vier Brüder und zwei Schwestern, haben alle ein Leben lang gearbeitet, Familien gegründet und Kinder großgezogen. Niemand von ihnen hat sich größere Eskapaden geleistet oder seine Mitmenschen mit seiner Wankelmütigkeit belästigt. Man könnte fast behaupten, dass die Aufregungen um meinen Vater ihre bürgerlichen Existenzen überhaupt erst ermöglicht haben. Wird einmal ein Familienmitglied von Selbstzweifeln gepackt, muss es nur ermahnt werden: »Reiß dich zusammen, denk an Onkel David in Deutschland, willst du einmal so enden wie er?« Und schon ist alles Aufbegehren gegen die Zwänge einer gesellschaftlich akzeptierten Lebensweise erstickt.
    Besonders Simon, der älteste Bruder meines Vaters und Oberhaupt der Familie, hat sich ein Leben lang für meinen Vater verantwortlich gefühlt. Er ist immer noch davon überzeugt, dass die Strafe für so ein verwerfliches und verantwortungsloses Leben, wie es mein Vater führt, auf dem Fuße folgen müsse, allerdings muss sich das Schicksal langsam beeilen, denn die beiden Männer sind 73 und 85 Jahre alt.
    Als es kühl wurde am Strand, brachen mein Vater und ich auf. Wir fuhren nach Hulon, einer Kleinstadt nahe bei Tel Aviv. Dort wohnte mein Onkel Simon, bei dem mein Vater und ich dieses Jahr übernachteten.
    An der Tür sagte mein Vater plötzlich,
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