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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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schließlich darüber, wie unsere Arbeitswelt und der Umgang zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aussehen. Und so wie eine Frau sich von einem Mann trennt, der sie schlägt – auch wenn der nächste Partner noch nicht in Sicht ist –, so sollte einfach niemand mehr ein schlecht bezahltes Praktikum annehmen, auch wenn er sich noch so viele Chancen davon erhofft. Niemand sollte sich von einem Redakteur wochenlang in Schach halten lassen, um seinen Namen in der Zeitung zu lesen. Es gibt keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, wenn man in einem Vorstellungsgespräch deutlich macht, dass die eigene Begeisterung und Leidenschaft anderen Dingen gelten als dem Broterwerb. Arbeitnehmer, die etwas auf sich halten, verweigern unsinnige Schulungen und entwürdigende Mitarbeitergespräche und setzen sich gegen überzogene Forderungen zur Wehr.
    Die Verhältnisse werden sich nur ändern, wenn immer mehr Menschen deutlich machen, dass sie bestimmte Dinge nicht mehr mit sich machen lassen. Irgendwann wird es gesellschaftlicher Konsens sein, dass man sich nicht für einen Arbeitsplatz oder einen Auftrag verleugnen muss.
MIT DER ARBEIT LÄSST MAN SICH NICHT ERPRESSEN!
    Beruf ist Selbstverwirklichung, und wer Arbeit hat, ist autonom – das habe ich von meiner Mutter gelernt, die unbedingt wollte, dass ihre Töchter einen Beruf ergreifen. Dass das Gegenteil genauso wahr ist, lernte ich von Schulkindern aus Berlin Kreuzberg. Um mein Psychologiestudium zu finanzieren, betreute ich Kinder aus sogenannten Problemfamilien. Besonders nervenaufreibend waren Ausflüge mit meinen Schützlingen in die Stadt, denn als notorische Befehlsverweigerer gingen sie weder an der Hand, noch hörten sie auf meine Anweisungen, an Ampeln und Straßenübergängen stehen zu bleiben. Eines Vormittags war ich mit der neunjährigen Stefanie unterwegs. Wir standen an einem Bahnsteig und warteten auf die S-Bahn, Stefanie begann auf der Bahnsteigkante zu balancieren, dabei blickte sie sich nach mir um, um zu sehen, wie ich darauf reagierte. Ich bat sie, damit aufzuhören, was sie natürlich nicht tat, im Gegenteil, ihr Balanceakt wurde deutlich waghalsiger.
    Daraufhin ging ich zu ihr und befahl: »Ich zähle jetzt bis drei, und dann stehst du dort hinten neben dem Fahrkartenautomaten.«
    »Nee, mach ich nich, kannste lange zählen«, erwiderte Stefanie.
    Ich kannte Stefanie gut und wusste, dass sie sich eher vor den Zug stürzen würde, als klein beizugeben. Ich musste mich also so ausdrücken, dass Stefanie begriff, dass sie keine andere Wahl hatte, als zu gehorchen:
    »Wenn du nicht bei drei da stehst, hast du eine sitzen, dass du nicht mehr weißt, wie du heißt«, sagte ich. Ich hatte nicht vor, das zu tun, ich wollte nur, dass Stefanie glaubte, dass ich das tun würde. Aber Stefanie grinste nur: »Wenn du das machst, sage ich das der Sozialarbeiterin, und dann verlierst du deine Arbeit.«
    Sie, die Neunjährige, hatte längst begriffen, wie man Erwachsene kleinkriegt. Der Verlust der Arbeit, das war etwas, womit man jede Betreuerin und jede Lehrerin erpressen konnte. Und wer erpressbar ist, vor dem braucht man keinen Respekt zu haben.
    Mir war klar, dass ich das nicht mit mir lassen machen durfte.
    Äußerlich ruhig und politisch völlig unkorrekt antwortete ich: »Aber bevor du mich verpetzt hast, hast du eine sitzen.«
    Der Triumph wich aus Stefanies Gesicht, und ohne ein weiteres Wort stellte sie sich neben den Fahrkartenautomaten.
    Wenn man mit dem, was man gerne hätte, erpresst wird, dann ist die erste Maßnahme, um seine Autonomie wiederherzustellen, auf das Gewünschte zu verzichten. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um einen hoffnungslos unterbezahlten Verkäuferinnenjob oder ein Stipendium handelt. Man sollte sich auch keine Zugeständnisse abpressen lassen, in der Hoffnung, dass man in der Zukunft dafür entschädigt wird. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, von denen man sich abhängig macht, sich sehr selten daran erinnern, was sie einem ein paar Jahre zuvor versprochen haben.
    Der französische Soziologe Robert Castel sieht den Zeitpunkt gekommen, die »nahezu hysterische Überbewertung der Arbeit« zu hinterfragen. Es wird also in Zukunft darum gehen, sich symbolisch gesehen nicht in der langen Reihe von Stenotypistinnen anzustellen und darauf zu hoffen, doch noch beim Rechtsanwalt um die ersehnte Stelle vorsprechen zu dürfen.
    Wenn man das nämlich nicht macht, kann man in Ruhe überlegen, ob es nicht lohnender wäre, nicht mehr für
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