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Ich bin dein, du bist mein

Ich bin dein, du bist mein

Titel: Ich bin dein, du bist mein
Autoren: Ravensburger
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erinnern. Nur an das Blut im Schnee. Und den zerbrochenen Schlitten.«
    Judith betrachtete das Bild über der Kommode genauer. Ein Familienfoto: Der Vater hielt ein Baby auf dem Arm.Die Hand der Mutter ruhte auf der Schulter eines verstört dreinblickenden Jungen von vielleicht drei Jahren.
    Und mit einem Mal wurde ihr schockartig klar, wie Gabriel dem Wahn verfallen war, dass sie füreinander bestimmt wären. »Sie sieht aus wie ich! Das gleiche rote Haar, die gleichen Locken.«
    »Und sogar fast die gleiche Stimme«, sagte Gabriel. »Nur in einem Punkt seid ihr total verschieden: Im Gegensatz zu dir war meine Mutter eine schwache Frau.«
    Gabriels Vater war ein grobschlächtiger Mann mit einem runden Gesicht auf dem ein herablassender, selbstzufriedener Ausdruck lag. Ein Doppelkinn wölbte sich über den Kragen seines Hemdes. Die Hand, die das Baby hielt, war dick und fleischig.
    »Wie ist deine Mutter gestorben?«, fragte Judith.
    »Sie hat sich erhängt«, sagte Gabriel.
    »Oh Gott.« Judith beugt sich näher zur der Aufnahme hin. Die Augen schienen ohne Leben, die Gesichtszüge starr. Wie bei einem Menschen, der viel gelitten hat. »Das tut mir leid.«
    »Verstehst du jetzt, warum ich mich in dich verliebt habe?«
    Judith nickte. »Ja, aber …«
    »Aber was?«, wollte Gabriel wissen.
    »Aber ich werde niemals deine Mutter ersetzen können.«
    »Das sollst du auch gar nicht«, antwortete Gabriel barsch. »Glaubst du etwa, ich bin verrückt? Dass ich einen Ödipuskomplex oder so was habe?«
    »Ich glaube gar nichts«, sagte Judith rasch, um ihn zu beschwichtigen.
    Zur ihrer Erleichterung hatte er sich nach wenigen Minuten wieder beruhigt. Verblüffend, wie schnell seine Stimmung umschlagen konnte. Sie musste sich höllisch in Acht nehmen, jedes Wort, jede Handlung genau abwägen.
    »Ich wollte, dass du meine Familie kennenlernst. Du sollst wissen, wer ich bin«, sagte Gabriel. »Verstehst du, wie wichtig mir das ist?«
    Judith zögerte. Schließlich nickte sie.
    Gabriel seufzte und lächelte dann. »Das bedeutet mir sehr viel.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Darf ich?« Judith war auf alles gefasst. Doch er gab ihr nur einen sanften Kuss auf die Wange.
    »Ich liebe dich«, flüsterte er. »Das darfst du nie vergessen.«
    »Da kannst du dir ganz sicher sein.« Nein, das würde sie in der Tat nicht vergessen.
    In diesem Moment drehte er sich abrupt um und löschte das Licht. »Komm jetzt. Wir haben noch viel vor.«
    Er stieg mit ihr die schmalen Stufen wieder hinunter, führte sie durch einen engen Korridor, von dessen Wänden sich vergilbte Blumentapeten lösten. Sie kamen an mehreren Türen vorbei. Vor einer davon blieb Gabriel stehen. »Dein Bad. Ganz für dich allein. Es ist alt, aber sauber.«
    Die Kacheln der Innenwände waren vanillefarben, in einigen Fugen saß schon der Schimmel. Es gab eine alte, abgestoßene Wanne auf Löwenfüßen. Gabriel musste das Bad lange vorgeheizt haben, denn es war stickig heiß.
    »Das liegt an dem Boiler«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. In der Ecke stand ein großer, zylindrischer Behälter, der von unten mit Holz oder Kohle befeuert wurde. »Du kannst baden oder duschen, ganz wie du magst.« Er deutete auf ein kleines Regal. »Zahnbürste, Zahnpasta, Deo, Seife. Waschlappen und Handtücher findest du im Schrank dort hinten. Hast du noch Fragen?«
    Judith schüttelte den Kopf. Trotz der Hitze zitterte sie am ganzen Leib.
    »Gut. Dann warte ich draußen vor der Tür.« Er ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder eine Geste an sie zu verschwenden. Wieder war seine Stimmung ganz plötzlich umgeschlagen. Ich muss hier raus, dachte Judith verzweifelt. Ich muss hier raus, und zwar so schnell wie möglich! Aber solange sie nicht wusste, wie, musste sie Gabriels Anweisungen folgen. Deshalb überwand sie sich,legte ihre Kleider ab und kletterte in die Wanne, um rasch zu duschen. Durch das Rauschen des Wassers hörte sie es an der Tür klopfen. Sie zuckte zusammen und drehte den Hahn zu. »Ja?«, rief sie.
    »Brauchst du noch lange?«, fragte Gabriel.
    »Eine halbe Stunde.«
    »Ich gebe dir fünfzehn Minuten.«
    Judith stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich an. Dann öffnete sie die Tür. Gabriel war nicht zu sehen, sie hörte nur das Scharren seiner Schritte auf dem Holzboden.
    »Nach unten. Du kennst den Weg«, sagte Gabriel. Obwohl sie ihm gehorcht hatte, wurde seine Stimmung immer gereizter.
»Leg dich aufs Bett«, befahl er ihr.
    Judith
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