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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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E r sei krank, hiess es, oder er sei krank gewesen. Ihm selbst war aber gar nicht so. Für den Vorgang, den die bekümmerten Menschen um ihn Genesung nannten, hatte er kein genaues Wort. Er sagte Besinnung dazu oder Auffrischung, Aufforstung. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er vergesslich gewesen, sehr sogar oder grenzenlos, das mochte er nicht mehr leugnen. Marion, seine Frau, hatte ihn zart und zäh begleitet durch Dickichte von Wochen, Monaten
hindurch, für alle Betreffenden, für alle Betroffenen zweifellos eine schwierige Zeit. Theo, der ältere Bruder, stand immer zur Verfügung mit Ermunterungen, Prosecco, Gebäck. Pauls Gedächtnis kläre sich Stück für Stück, sagten sie. Und so sagte auch Paul selbst. Allerdings blieb da die Frage: Wo war er auf die Dauer besser ausgerüstet, im Erinnern oder im Vergessen? Nahm die Erinnerung jetzt überhand? Ergriff sie Besitz von ihm?
    Du machst Fortschritte, sagte Marion, kurz bevor Paul den Löffel so ungeschickt hielt, dass ihm die Suppe dem kleinen Finger entlang in den Ärmel lief. Solche Pannen gehörten schon nicht mehr zum Alltag. Man rechnete nicht mehr damit.
    Tom, der Bub, lachte hihi – wie nur Blonde lachen können, die bleich sind und beim Lachen rotköpfig werden. Er hatte eine empfindliche Haut, die er vor der Sonne schützen müsste. Jeden Sommer aber beschaffte er sich einen Sonnenbrand und durfte dann schlechte Laune haben.
    Aus Pauls Panne mit der Suppe machte Tom eine Zirkusnummer. Er wiegte den vollen Löffel hin und her, bis die Suppe ihm hurra! vom Ellenbogen tropfte. Marion wandte sich ab. Sie sah müde aus, selbst von hinten, vor allem von hinten. Ein knapper Satz von Paul war hier erforderlich. In Marions Rücken sagte er: Etwas Spass lockert die Familie.
    Ich brauche weiss Gott keine Lockerung, wo doch ohnehin schon alles auseinander fällt, kam es von Marion, matt, traurig sogar, etwas Haltbares wäre mir lieber.
    Tom, mit Blick auf seine Mutter, tat so, als würde er seinem Vater Suppe in die Ohren giessen.
    Paul kam ihm lachend und mit schrägem Kopf entgegen.
    Stillhalten, befahl der Bub.
    Paul besann sich: So, das reicht! Die Mahnung galt auch für ihn selbst. Seine Stimme, die ihn überraschte, war lauter als nötig. Aber wer weiss denn immer im Voraus, was nötig ist und wie viel davon.
    Tom verstummte und Marion blieb weiterhin stumm.
    Auerochse, nannte sie den Mann in solchen Fällen. Manchmal sagte sie auch: mein Auerochse. Er hätte sie gern selbst irgendwie genannt, aber im ganzen Tierreich fand er nichts, das passte. Nur Unpassendes stellte sich ein, Gans oder Schwan zum Beispiel. Oder Kamel. Paul liebte die Kamele über alles. „Über alles“ war übertrieben, aber er liebte diese Tiere. Ihr Wiederkäuen mit erhobenem Kopf, die wulstigen, filzigen Augen, denen man nicht ansah, was sie sahen. Und wie umständlich sie vom Liegen auf die langen Beine kamen. Vielleicht liebte Paul diese Tiere doch „über alles“. Nur gab es eben Verschiedenes, das er auf diese Weise liebte, und seine Liebe kannte keine dauerhafte Ordnung.
    Theo kündigte sich an. So nachdrücklich klingelte nur er. Wer seinen Daumen kannte, konnte sich vorstellen, dass er damit einen Klingelknopf breitdrückte. Nun stand er in der Wohnungstür. Er hinkte herein. Das Auftreten des gesunden Beines hatte etwas Triumphierendes. Er schob eine Pralinenschachtel, King­size, auf die Hutablage, um die Arme für Marion frei zu bekommen. Als er sie auf den frisch geschminkten Mund zu küssen versuchte, wich sie ihm aus, ärgerlich und lachend. Sie wollte zurück ins Geschäft. Theo streckte Paul eine kräftige Rechte entgegen. Für Tom war sein Händedruck eine männliche Herausforderung, der er nur knapp gewachsen war.
    Marion bat den Gast an den Tisch zu einem Es­presso. Mit einer Hälfte des Gesässes setzte sie sich kurz dazu.
    Theo hatte Mühe gehabt, einen Parkplatz zu finden. Er sprach von einer Parkplatznot. Seine grossen Hände lagen flach auf dem Tisch. Er vergewisserte sich der Blicke der Familie und erklärte: Früher habe ich jedes Wochenende in den Bergen verbracht, ist
es nicht so? Er hob eine Hand vom Tisch und verschaffte so der Frage Raum. Jedes Wochenende! Nun, das liegt jetzt hinter mir. Ich habe für die Berge innerlich einfach keine Verwendung mehr. Theo beugte sich zum Bruder vor: Stell mich vor das
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