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Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Titel: Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
Autoren: Serhij Zhadan
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Nicht schlecht, sagte er nachdenklich, nicht schlecht. Besonders dieser Kerzenleuchter.
    Eine Kopie des fertigen Films gab Gabriel Valunja, für die Auftraggeber. Die zweite Kopie gab er dem Direktor, zusammen mit dessen Anteil. Dem Direktor gefiel der Film, eins nur, fragte er Gabriel, – was ist das für ein Georgier mit Flügeln? Die Italiener zahlten für den Film, machten das Programm zur Bekämpfung der ukrainischen Prostitution dann aber dicht: zu unrentabel. Valunja trat in die Partei der Regionen ein. Gabriel kaufte für das Filmhonorar eine neue Kamera und ließ sich eine Ampulle implantieren. Ein halbes Jahr später schnitt er sich selber die Ampulle heraus und fing wieder an zu saufen. Einen Monat später schrieb er sich bei den Anonymen Alkoholikern ein. Dann soff er wieder. Ließ sich eine Ampulle implantieren. Soll ich weitermachen?
    Marta reiste in die Türkei, von wo sie sich in ein italienisches Bordell durchschlagen wollte. Sie ließ nichts von sich hören. Vika bewarb sich bei einer Pizzeria, bekam den Job aber wegen ihres Piercings nicht. Im September begegnete sie in der Metro dem Buckligen. Hey, Viktor Pawlowytsch, freute sich Vika, lange nicht gesehen. Der Bucklige freute sich auch, sagte, er arbeite jetzt als Kassierer in einer Spielhalle, und lud sie zum einarmigen Banditen ein. Und, fragte er, siehst du die anderen noch manchmal? Nein, antwortete Vika, Valunja sehe ich im Fernsehen, sonst niemanden. Und Marta,schreibt sie dir? – interessierte sich der Bucklige. Nein, antwortete Vika, tut sie nicht. Mir schon, sagte der Bucklige und gab ihr die Adresse des türkischen Hotels, in dem sich Marta aufhielt. Vika überlegte lange, dann schrieb sie ihr einen Brief. Der Brief lautete:
    Als wir klein waren, haben mein Bruder und ich »erwachsene Sachen« gesammelt, er ist zwei Jahre älter, es war also alles seine Idee, er interessierte sich auch mehr dafür. Wir suchten in den schweren Koffern auf dem Speicher, voller Klamotten und kaputtem Kram, durchwühlten Berge von Müll auf der Suche nach neuen Stücken für unsere Sammlung. Im Sommer wärmte sich der Speicher auf, wir wohnten in einem alten zweistöckigen Haus im Stadtzentrum, zusammen mit ein paar anderen Familien, und jede Familie hielt es für notwendig, ihre alten Sachen im Speicher abzuladen. Die Dachluke war kaputt, durch die Luke flogen immer wieder Tauben herein und legten Eier in kaputte Schreibmaschinen und alte kupferne Kaffeekannen. Dazu gab es noch jede Menge Staub und Federn auf dem Dach, die Federn schoben sich zwischen die Seiten der Bücher und in die Taschen der Anzüge, wir fanden sie in Aschenbechern und Tintenfässern, schüttelten sie aus BHs und Kerosinlampen. Mein Bruder brach das Schloß an einem weiteren Koffer auf, und wir suchten uns aus dem verstaubten Plunder das heraus, was wir brauchten, also Puderdosen, Metallkämme, Zahnpulverschachteln, rostige abgebrochene Rasierklingen, zerrissene Strümpfe, zerknitterte Krawatten, ausgebleichte Kleider, löchrige Hüte, billige Ohrringe, verbrauchte Kugelschreiber, einzelne Handschuhe, Notizblöcke mit der genauen Niederschrift sämtlicher Tagesausgaben, total durchlöchertes Pauspapier, geborstene Telefone,zerrissene Einkaufsnetze, Geldbörsen mit einer Menge Fächern, lange Zigarettenspitzen für Frauen, Brillen mit gebrochenen Bügeln, deformierte Damentaschen, vergilbte Urkunden, Badekappen, Ansichtskarten aus fremden Städten, Sonnencreme, in zwei Hälften zerbrochene Kameras, abgelaufene Antibabypillen, Weinflaschenetiketten, Armreife aus rotem Plastik und mit Wachs übergossene Wecker, Fotos von Filmschauspielern und Rätselhefte, Zykluskalender und Kapseln mit irgendwelcher Medizin, lange Briefe in zerfetzten Kuverts und gläserne, mit Blut gefüllte Spritzen, grauhaarige Perücken und Rezepte aus der Poliklinik, Kirchenkerzen und selbstgemachte Ikonen, ein Foto von einem Begräbnis, Studioaufnahmen von alten Frauen, Fotos mit einem Haufen Erwachsener und Kinder, unbekannte Gesichter, unverständliche Situationen, die wir umdeuteten und uns zu eigen machten, wovon wir wenn nicht erwachsener, dann doch auf jeden Fall erfahrener wurden. Die Tauben flogen über das Haus, trauten sich aber nicht herein und warteten, bis wir nach unten gingen. Wir aber ließen uns Zeit, sahen lange die gefundenen Sachen durch, betrachteten die Einträge in den Notizbüchern, erkannten Schauspieler auf den Fotos, im Sommer wohnten wir beinahe im Speicher, dort gab es Möbel, ein
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