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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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    Mishi Bizhi sprang aus den Stauden, die in jenem Teil der Bundesstraße zwischen Schlögener Schlinge und Engelhartszell, wo die südliche Hälfte des Saurüssel-Massivs ganz nahe an die Donau rückt, einen schmalen Streifen zwischen Flussufer und Asphalt bilden, zwei Meter breit, manchmal drei, höchstens fünf.
    Mishi Bizhi, das ist der Wasserluchs.
    Mishi Bizhi schnellte geschmeidig fast bis zum Mittelstreifen, rutschte ein wenig auf dem feuchten Asphalt, geriet in den Scheinwerferkegel meines Autos, erschrak, duckte sich flach zum Matsch auf dem Boden.
    Wasserluchs lebt in den Großen Seen der Anishinaabe und beschützt alles Lebendige, das nicht zur Welt neben der Welt gehört. Nanabozho hat die Welt der Menschen erschaffen, diese Welt, danach wurde ihm langweilig, danach begann er seine Geschöpfe mit Streichen zu necken, um sich die Zeit zu vertreiben. Nanabozho ist der Große Hase, der Schöpfer und der Quäler seiner Schöpfung. Mishi Bizhi steigt aus den Wassern, wenn es notwendig ist, und schützt die, die sich Die Menschen nennen.
    Bist du mein Schutz, Mishi Bizhi aus Oberösterreichs Gewässern? Die Frage blitzte durch mein Hirn, während ich versuchte, den Mietwagen zum Stehen zu bringen, ohne das Wesen mit den kalten Augen zu verletzen. Die ganze Zeit starrte das Wesen mich an, während das schlingernde Auto darauf zurutschte, keine Angst war in diesen Augen, kein Erschrecken, nicht einmal Überraschung. Nur Neugier.
    In Wirklichkeit war sie nicht aus den Büschen auf die Fahrbahn der B 130 gesprungen. Sie kam aus dem Gehölz zwischen Donau und Straße, stieg mit einer einzigen raschen Bewegung über die Leitplanke. Sie hob einen kleinen, unpraktischen weil modischen Rucksack über die Metallplanke, stolperte dabei, machte einen Schritt auf die Fahrbahn. Weil sie so dunkle Kleidung trug, Jeans, einen braunen Pullover und eine olivgrüne Jacke, sah ich sie zu spät. Ich bremste, der linke Vorderreifen geriet auf ein paar glitschige braune Laubblätter, die sich auf dem Asphalt zusammengeschoben hatten. Der Wagen begann zu rutschen, ich nahm den Fuß von der Bremse, lenkte auf die Gegenfahrbahn. Gerade noch konnte ich ihr ausweichen.
    Sie war auf alle viere gegangen, hatte sich über ihren Rucksack gebeugt, als ob sie ihn mit ihrem Körper vor einem möglichen Zusammenprall mit dem Autoblech bewahren müsste. Klein und dunkel und drahtig war sie, und ein Kind. Vierzehn Jahre, vielleicht fünfzehn. Wie sie dahockte mit ihrem Rucksack und das Schleudern meines Autos beobachtete, mit kaltem, neugierigem Blick, da sah sie aus wie Bizhiw. Luchs. Das geheimnisvollste Tier. Jenes, das leer ist. Ohne Geschichten. Katzenwesen, beinahe unsichtbar, niemandes Totem. So sah sie aus, das Mädchen auf der Straße, Bizhiw, Luchs, und Mishi Bizhi, Wasserluchs, weil ihre Haare feucht glänzten, als wäre sie gerade der Donau entstiegen.
    Ich stellte die Alarmblinkanlage an und stieg aus. Die Straße ist zu eng und ich kann den Wagen nirgends abstellen, schrie ich hinüber zu ihr, die noch immer auf dem Boden kauerte, es kann jederzeit ein Auto kommen, das hier ist eine gefährliche Stelle. Ob ich was anderes als Scheiße auch noch im Schädel hätte, rief sie zurück. Ich fragte, ob sie sich eh nicht verletzt habe, sie schaute mich böse an und schüttelte den Kopf. Komm ins Auto, sagte ich, ich kann hier nicht stehen bleiben. Ein paar Kilometer weiter, da gibt’s Ausweichmöglichkeiten neben der Straße.
    Papi sagt, dass ich nicht zu fremden Männern ins Auto steigen soll, grinste sie, während sie den Rucksack auf die Rückbank warf und sich in den Beifahrersitz fläzte.
    Weiß Papi, dass du dich nachts um elf auf der Straße rumtreibst?
    Wahrscheinlich weiß er es. Und wenn nicht, ist es egal, oder.
    Aber in deinem Alter –
    Ich bin achtzehn, sagte sie schnell, verschränkte die Arme und deutete mit dem Kinn Richtung Windschutzscheibe. Es war ein Befehl, dass ich endlich losfahren sollte. Ich gehorchte. Ein paar Kilometer weiter eine Parkbucht. Ich wollte anhalten, sie fragte, wozu. Um nachzusehen, ob etwas passiert ist, sagte ich, es ist nichts passiert, sagte sie, man sollte vielleicht die Polizei, sagte ich, das Auto ist ein Mietauto, wenn man es nicht meldet, wenn etwas passiert, gibt es Schwierigkeiten mit der Versicherung. Es ist nichts passiert, wiederholte sie. Sie sagte: Nicht anhalten. Und bloß keine Polizei.
    In Ordnung, Mishi Bizhi, sagte ich.
    Misch-Vieh was?
    Wasserluchsweibchen.
    Stimmt was nicht
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