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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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Große Seen. Ein Führer in das Kanada der Anishinaabe. Kennen Sie eigentlich Kohls Reisebeschreibung über seine Fahrt von Linz nach Wien?, fragte er nach einer Pause.
    Ich verneinte.
    Ich dachte, Sie kommen aus Linz?
    Schon, sagte ich, aber wer würde Reiseführer lesen über die Gegend, in der er lebt?
    Da haben Sie auch wieder recht.
    Die Biografie verkaufte sich gut, der Reiseführer ebenfalls. Dem Geschäftsführer fiel eine weitere Publikation ein: Johann Georg Kohls neutraler europäischer Blick auf die Indianer. Die Auswirkungen der unterschiedlichen Zugänge französischer, britischer und amerikanischer Kolonisatoren zur aboriginalen Bevölkerung, abgehandelt am Beispiel des ersten und zweiten Krieges des Stammes der Füchse, auf die heutigen Autonomiebestrebungen nordamerikanischer indigener Völker. So kam es, dass ich fast sieben Jahre am Lake Superior lebte.
    Es ist auch gelogen, wenn ich sage, dass ich wegen eines Jobs weggegangen bin. In Wahrheit bin ich weggegangen, weil die Angst unerträglich wurde, mit ihr reden zu müssen. Meiner Mutter. Wegen meines Namens auf dem Kriegerdenkmal. Als Kind hatte ich es als gespenstisch empfunden, wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, das allgemeine Schweigegebot des Dorfes zu brechen. Sobald ich weggezogen war, zuerst nach Linz, dann nach Wien, hatte ich das Denkmal vergessen. Erst nach dem Tod meines Vaters, als ich regelmäßig zu Allerheiligen sein Grab besuchte, sah ich das erste Mal seit Jahrzehnten auf das Denkmal und musste lachen. Ich erzählte Freunden von dieser lachhaften Sache. Sie lachten nicht. Sie fragten, wer das ist mit meinem Namen, der auf dem Denkmal steht.
    Irgendein Onkel, sagte ich, und dass ich eigentlich kaum etwas dazu wüsste. Eine Frau, die mir damals wichtig war, sagte, dass ich sie fragen müsste. Meine Mutter. Mit fast schon fünfzig sollten einem solche Angelegenheiten nicht gleichgültig sein. Die Vorstellung, mit meiner Mutter über das Kriegerdenkmal zu reden, hatte mir solche Angst gemacht, dass ich umgehend ja gesagt hatte auf die Frage des Verlagsdirektors, ob ich mir vorstellen könnte, für eine Weile nach Nordamerika zu gehen.

6
    Ich erwachte nach der Plage eines unruhigen Schlafes mit unbestimmten Schmerzen im ganzen Oberkörper. Das Pyjamaoberteil war durchnässt von meinem Schweiß, ebenso die Steppdecke. Ein Stechen im Brustkorb, als ich mich aufrichtete. Ich musste mich seitlich aus dem Bett rollen. Im Stehen veränderte sich das Stechen zu einem ekelhaften Ziehen, das bei jeder Bewegung stärker wurde und schließlich zur Wirbelsäule wanderte. Ich ließ in der Dusche eine Viertelstunde lang brennend heißes Wasser über den Rücken laufen. Nichts veränderte sich.
    In den gelben Seiten des Linzer Telefonbuchs suchte ich unter dem Stichwort Allgemeinmediziner und fand gleich einen bekannten Namen. Bodinger, Alfred Bodinger. Von den einundzwanzig Maturanten aus meiner Abschlussklasse waren vier Ärzte geworden, Bodinger war einer von ihnen. Seine Praxishilfe wollte mich nicht mit ihm verbinden, erst als ich ihr sagte, dass es sich um eine private, persönliche Angelegenheit handle, stellte sie mich durch.
    Bodinger hörte nicht auf mit allgemeinem Geplauder. Er habe gar nicht gewusst, dass ich in Kanada lebe, sagte er, man habe sich allerdings eh schon gewundert, dass ich nicht mehr bei den Maturatreffen aufgetaucht sei. Er wollte wissen, wie es ist in Nordamerika, lachte ein wenig, als ich von den Anishinaabe erzählte, und dass dieses Algonquin-Wort Die Eigentlichen Menschen bedeutet. Immer noch der Nscho-Tschi-Traum, was?, prustete er durch das Telefon. Ich erzählte von meinen Schmerzen.
    Wie lange bist du in Österreich?, fragte er.
    Nicht lange. Hoffentlich.
    Übermorgen Vormittag, sagte er, geht das?
    Ich bejahte. Wir schwiegen. Kannst du noch wiehern?, sagte ich dann.
    Ach Gott, sagte er nach einer langen Pause. Professor Sturmbannführer.
    Unser Geografieprofessor war gleichzeitig der Turnlehrer gewesen. Ein Verrückter. In seinem Kopf hatte er eine Silberplatte. Eine Kriegsverletzung, über die er nie sprach. Wenn die Turnstunden im Freien stattfanden, ließ er uns in Zweierreihen im Schulhof antreten und im Gleichschritt zum Sportplatz marschieren. Wenn das Wetter wechselte, klagte er über Kopfschmerzen. Und wurde unberechenbar. In den Geografiestunden ließ er Bodinger regelmäßig wiehern. Wenn der Sturmbannführer-Lehrer schrie: Bodinger, wiehern!, dann wussten wir, dass sich die
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