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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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Luftdruckverhältnisse gerade veränderten.
    Der Geografieunterricht war ein Witz. Beinahe die ganzen acht Jahre lang legten wir milchiges Pauspapier auf eine Seite im Atlas und zeichneten Umrisse nach, zuerst jenen des Bezirks Linz-Land, dann jenen von Oberösterreich, dann Österreich, ab der Oberstufe Europa und schließlich die ganze Welt. Wir machten Punkte für die wichtigen Städte, zeichneten die Flüsse ein. Zu Beginn jeder Stunde rief er ein paar zu Prüfende nach vorne, man musste das Pauspapier mit dem aktuellen Bundesland oder Land mitnehmen, der Professor deutete auf einen Punkt oder eine gewundene Linie, man musste ihm den Namen der Stadt oder des Flusses nennen. Das war alles.
    Bodinger schrie ins Telefon: Bodinger, wiehern!
    Ja, sagte ich, waren lauter Nazis.
    Der einstige Wehrmachtssoldat, den wir Professor Sturmbannführer nannten, hatte es auf ein paar seiner Schüler besonders abgesehen. Und zwar auf die besten. Bodinger war der Primus in Geografie, er kannte jeden Punkt und jede Linie auf den Hunderten von Pauspapieren, und er konnte zu jedem Umriss eines Landes ansatzlos alle angrenzenden Bundesländer oder Staaten aufzählen, korrekt im Uhrzeigersinn. Sechs- oder siebenmal im Schuljahr musste er wiehern. Es war ein Deal zwischen ihm und dem Professor: Wenn er wieherte, erhielt er ein Sehr Gut im Trimester-Zeugnis, ohne mit einer einzigen Frage belästigt zu werden.
    Wir anderen saßen in den engen Stühlen und schwankten zwischen Angst vor dem Nazilehrer und einer großen Faszination wegen des demütigenden Schauspiels. Bodinger, wiehern!, schrie der Professor, Bodinger stand auf, schluckte ein paar Mal, warf den Kopf in den Nacken, meist begann er mit einem kläglichen Geräusch, brach ab, sammelte Speichel, der Professor stand vom Katheder auf und ging durch die Reihen, näherte sich mit lüsternem Blick seinem Opfer. Bis dann Bodinger endlich wieherte, laut und hell, täuschend echt. Es war eine Gabe, die ihm durchgehend Bestnoten in Geografie bescherte, bis zum Maturazeugnis.
    Der Zweitbeste in Geografie war ein dicker Bauernsohn mit schlechten Noten in Turnen. Nur beim Fußballspielen war er beliebt bei den Mannschaftsführern, sie wählten ihn immer gleich unter den ersten aus, weil er keine Scheu hatte, als Verteidiger die angreifenden Stürmer mit der Masse seines Körpers niederzureißen. Auch mit ihm hatte der Sturmbannführer einen Deal. Der Bauernsohn musste Rollen vorwärts machen im Klassenzimmer, einmal den ganzen Raum entlang, im Mittelgang zwischen den Pulten, und wieder zurück zu seinem Platz. Dann bekam er ebenfalls sein Sehr Gut, ohne geprüft zu werden.
    Ich fragte den Allgemeinmediziner: Und, kannst du noch wiehern?
    Endlos lange hörte ich nichts. Dann ein Räuspern. Und dann ein Wiehern. Kraftvoll, laut, das Wiehern eines wilden, wütenden Pferdes, das sich Luft machen muss wegen all der Enge und Plage. Alfred Bodinger wieherte. Er lachte, wieherte erneut, noch wütender, ein wenig Verzweiflung mischte sich in das Heulen. Dann ging ihm die Luft aus.
    Scheiße, was?, sagte ich.
    Na ja, sagte er. Immer noch besser als Rolle vorwärts. Hat uns letzten Endes nicht geschadet, oder? Also, bis übermorgen, sagte er nach einer Pause und legte auf ohne Gruß.

7
    Ich wusste, dass es so kommen würde. Dem Heiligen Mann hinterherreisend, näherte ich mich dem Friedhof mit dem Kriegerdenkmal beinahe jeden Tag. Dauernd kam ich an Ortstafeln und Straßenschildern vorbei, auf denen vertraute Ortsnamen standen. Wenn ich sie las, diese Namen, konnte ich nicht umhin, an den einen Ort zu denken, dem ich aus dem Weg ging. Ich mied den Ort, doch mit nachlassender Konsequenz. Ich wusste, dass es sich nicht vermeiden lassen würde.
    Und redete mir ein, dass es sinnlos sein würde, sie zu besuchen in der großen leeren Siedlungshaushälfte, in der sie saß, ganz allein, seit mein Vater gestorben war. Wenn ich sie fragen werde, wird sie sagen, was sie immer gesagt hat. Es waren schwere Zeiten. Es ist allen schlecht gegangen. Was hätte man denn tun sollen. Es ist uns nicht gut gegangen, aber wir beschweren uns nicht.
    Er, mein Vater, hatte gar nichts gesagt, wenn er nüchtern war. Wenn er getrunken hatte und in Gesellschaft Gleichaltriger war, dann redete er manchmal. Die Männer begannen, einander zu übertrumpfen mit ihren Kriegsabenteuern und Verwundungen. Den Bauch voller Granatsplitter, auf den harten Brettern im Panjewagen, das Gepolter, der Feindbeschuss. Die wahnwitzigen Schmerzen
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