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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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Nie Satt Werden. Ich saß auf der Wohnzimmercouch und wünschte mir, die Teufelseiche begänne in meinem Kopf zu schnarren und sagte mir mit ihren halblustigen Stanzen, was für ein Idiot ich war, doch die Eiche schwieg. Ich blieb sitzen, so wie die Anishinaabe an den Ufern des Großen Wassers gehockt waren, eine unendliche Zeit lang, und ihre Jossakids hatten gerufen und gerufen. Wo bist du, Mishi Bizhi? Wo bist du? Doch die Wasserluchsweibchen rührten sich nicht mehr.
    Die Live-Übertragung von der Pressekonferenz mit dem Asylkind plätscherte dahin mit einander nur leicht variiert wiederholenden Fragen und Antworten. Meine Mutter kam ins Wohnzimmer, setzte sich neben mich und stieß einen kleinen verblüfften Ruf aus. Das ist doch das junge Fräulein, das neulich da war!
    Nein, sagte ich. Sieht ihr bloß sehr ähnlich.
    Eine Weile sahen wir schweigend zu. Dann fragte ich sie, ob sie eigentlich das Grab in Detmold kenne.
    Ich war nie in Detmold, sagte sie.
    Ich würde gerne einmal hinfahren, sagte ich. Sehen, wo er liegt, der so heißt wie ich.
    Ist eine lange Autofahrt, sagte sie, und man weiß ja nicht, ob es da überhaupt ein Grab gibt, in dem Sinne, wie man bei uns ein Grab hat. Ob man da was findet.
    Gibt schon ein Grab, sagte ich. Es hatte nur einige wenige Mausklicks auf der Homepage der Deutschen Kriegsgräberfürsorge gebraucht, bis die Antwort aufploppte in einem eigenen Fenster. Die gesuchte Person ruht auf der Kriegsgräberstätte in Detmold, Blomberger Straße, Endgrablage: Block 2WK Grab 106.
    Würdest du da mitfahren wollen?, fragte ich.
    Sie nickte.
    Ich habe eine Menge zu erledigen in Kanada drüben, sagte ich. Aber dann komme ich vielleicht wieder und wir fahren nach Detmold.
    Iris Berben ist in Detmold geboren, flüsterte sie.

80
    Als Söhne sind wir Versager, sagte ich zu dem Stein, auf dem mein Name steht, zwischen Kaineder, Kehrer, Kogler, Kornbichler und Lehner. Wir sind Verschwinder, die den Müttern abhandenkommen, wogegen sich die nicht anders zu wehren wissen, als sich zu verhärten und nichts mehr an sich heranzulassen. Und dann betrachten wir sie auf den vergilbten Fotos und sehen fremde Frauen, Unbekannte, die in einem leeren Land stehen, das ihnen keinen Halt und keinen tragfähigen Boden bietet, und wir zürnen, weil wir so vergeblich uns sehnen nach einer Auflösung der Verhärtung.
    Langsam ging ich über die Kieswege aus dem Friedhof hinaus, sah mich ein paarmal um, stellte mir vor, wo das Russengrab mit den seltsamen Kreuzen hätte gewesen sein können. Leichen ausgraben, das ist der zentrale Punkt in dieser Geschichte.
    Sie gruben die Leiche des Heiligen Mannes aus. Sie behaupteten, dass die Leiche nach sechs sarglosen Jahren im Erdgrab unversehrt gewesen sei und geduftet habe wie die süßesten vorstellbaren Düfte. Sie packten den Kadaver auf grobe Transportkarren und verschwanden. Ließen das Land leer zurück. Verzogen sich heim in ein Reich, das bereits aufgehört hatte zu existieren. So war das in jener Gegend, die heute Oberösterreich und Niederösterreich und Salzburg und Niederbayern heißt. Das Imperium war zerfallen. Der Mann, der als ein großer gepriesen wurde und wird, war ein kleiner. Ein Trickster und Taschenspieler, ein Geschichtenerzähler und Wunderheiler, ein Machtspieler unklarer Herkunft. Einer, der mit seinen Zaubertricks versuchte, den Schaden so niedrig wie möglich zu halten. Und der doch nicht viel mehr bewirkte als eine übereilte Abwicklung, der nicht mehr rettete als die Leben eines Teils der letzten Coloni.
    Es ist eine Geschichte voller Lügen und unvollständiger Teilberichte, und ihre Absicht ist eine manipulative. Also eine sehr heutige Geschichte. Denn das Land war nicht leer. Es war leer nur in der Vorstellung solcher, die jeden Ort auf Erden, der nicht von ihnen besiedelt ist, als eine wüste, leere Einöde sehen. In Wahrheit verschwanden die Eroberer; jene, deren Vorfahren vor Jahrhunderten gewaltsam Grund und Boden und Arbeitskraft in Besitz genommen hatten. Nach den Eroberern war das Land nach wie vor besiedelt. Von denen, die die Verschwundenen Barbaren nannten. Und weil die Verschwundenen ihre Kultur zurückließen, bezeichnen die Nachfahren der Barbaren ihre Altvorderen auch abschätzig als Barbaren.
    Das Flugticket nach Toronto lag auf dem Schreibtisch. Im Jugendzimmer war es kalt und muffelig. Ich nahm das Ticket in die Hand und vergewisserte mich seiner Gültigkeit. Die Endversion meines Beitrags zum Katalog der
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